Jesus: Der „Gezeugte“ des Vaters

Von Daniel Mann

Der Brief an die Hebräer enthält viele Lehren, die die Gottheit Jesu und seine Vorrangstellung gegenüber den Engeln, Mose und allem bekräftigen, was er vor seiner Menschwerdung geschaffen hat.

Die ersten Verse verweisen darauf, dass Jesus „die Welt gemacht hat“ , dass er „der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und das Ebenbild seines Wesens ist“ und dass er „alle Dinge mit seinem kräftigen Wort trägt“ (Hebr 1,2-3 [1]). Doch dann zitiert dieser Brief einen umstrittenen Vers – zumindest heutzutage –, um zu beweisen, dass er in einzigartiger Weise mit dem Vater als dessen Sohn verbunden ist: „Denn zu welchem Engel hat Gott jemals gesagt: ‚Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt‘?“ (Hebr 1,5; aus Ps 2,7 zitierend).

Das macht auch deutlich, dass in der Heiligen Schrift den Engeln niemals eine derartige Beziehung zugeschrieben wird. Allerdings suggeriert dieser Vers einigen Leuten, Jesus sei „gezeugt“ worden im Sinne von „er sei geschaffen worden und habe einen Anfang in der Zeit“. Wenn dies zuträfe, könne er nicht ewig existieren und folglich auch nicht Gott sein. Dasselbe „Problem“ begegnet uns in dem vielleicht berühmtesten Vers des Neuen Testaments: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen [monogenes im Griechischen] Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,16). Andere Bibelübersetzungen verwenden statt des aus dem Lateinischen [unigenitus] abgeleiteten Lutherbegriffes „eingeborener Sohn“ den Ausdruck „einziger Sohn“ (z.B. NGÜ, Hfa, NLB, Menge, EU).

Viele Sekten benutzen Johannes 3,16 und andere mögen diese Bibelstelle, um behaupten zu können, Jesus sei geboren worden. In der mormonischen Lehre heißt es: „Christus wurde von einem unsterblichen Vater gezeugt, so wie sterbliche Menschen von sterblichen Vätern gezeugt werden“ [2].

Das bedeutet jedoch, der Begriff „gezeugt“ muss nach unserem Verständnis und nicht aus der Perspektive des Schriftgebrauchs verstanden werden. Hebräer 1,5 zitiert aus Psalm 2, einem Psalm, der weithin als messianisch gilt, sogar unter den alten jüdischen Autoritäten: „Kundtun will ich den Ratschluss des HERRN. Er hat zu mir gesagt: ‚Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt‘“ (Ps 2,7).

Das Wort „gezeugt“ muss so verstanden werden, wie es der ursprünglichen Absicht entspricht. Wir können dies feststellen, indem wir den Kontext untersuchen. In diesem Kontext kann – er sei heute „gezeugt“ worden – unmöglich bedeuten, „um physisch geboren“ zu werden [3]. Der „Gezeugte“ wird angesprochen. Er existiert also bereits, noch bevor er „gezeugt“ wurde. Der Vers kann also nicht bedeuten: „Der HERR hat zu mir gesagt... ‚Heute gebäre ich dich.'“ Stattdessen muss „gezeugt“ etwas anderes bedeuten. Außerdem zitiert der Hebräerbrief aus Psalm 2,7, um die Vorrangstellung Christi über die Engel deutlich zu machen. Der Verweis auf eine physische menschliche Geburt könnte seine höhere Stellung kaum beweisen [4].

Jüdische Autoritäten verstehen diesen Vers ebenfalls in einem nicht wörtlichen Sinn. In seinem Commentary on thePsalms [Kommentar zu den Psalmen] schreibt Abraham Cohen, dass Psalm 2,7 „in einem bildlichen Sinne zu verstehen“ ist. Am Tag seiner Inthronisierung wurde der König von Gott als sein Diener gezeugt, um die Geschicke seines Volkes zu lenken. Als der Thron Salomo verheißen wurde, gab Gott die Zusicherung: Ich will sein Vater sein und er soll mein Sohn sein (2. Sam. 7,14) [5]. Cohen versteht unter „gezeugt“, dass der Messias als König erhöht und ihm die Herrschaft gegeben werden wird. Er rechtfertigt dieses bildliche Verständnis mit Psalm 89,28-29: „Und ich will ihn zum erstgeborenen Sohn machen, zum Höchsten unter den Königen auf Erden. Ich will ihm ewiglich bewahren meine Gnade, und mein Bund soll ihm festbleiben.“

Dass Gott König David zu seinem „Erstgeborenen“ machte, hatte nichts mit seiner Geburt zu tun, sondern ausschließlich damit, ihn als „den höchsten aller Könige der Erde“ zu preisen. Dieselbe bildliche Verwendung des Begriffs „Erstgeborener“ finden wir in einem Vers, der fälschlicherweise von den Zeugen Jehovas zitiert wird, um zu beweisen, dass Jesus einen Anfang in der Zeit hatte [6]: „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen“ (Kol 1,15-16).

Dieser Kontext erfordert, wie auch der Kontext von Psalm 89, dass das Wort „Erstgeborener“ bildlich interpretiert wird, im Sinne von „erhaben über die ganze Schöpfung“ und nicht im Sinne von „physisch zuerst geboren“. Darüber hinaus hat er nicht nur „alle Dinge“ erschaffen – und das lässt nichts von der Schöpfung bei dieser Gegenüberstellung aus, auch nicht ihn selbst –, sondern er hält auch alle Dinge zusammen: „Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm“ (Kol 1,17). Dies sind eindeutig Beschreibungen, die nur auf Gott zutreffen können. Paulus kann wohl kaum lehren, dass unser Erlöser einen Anfang in der Zeit hatte, während er gleichzeitig lehrt, dass er nicht nur alles geschaffen hat, sondern auch alles zusammenhält. Außerdem bezeichnete Paulus dann Jesus als den „Erstgeborenen von den Toten“: „Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, damit er in allem der Erste sei“ (Kol 1,18) [7].

Dies bezieht sich offensichtlich auf die Auferstehung Jesu, der unsere eigene Auferstehung folgen wird. Folglich hat er die Ehre und Herrlichkeit, der „Erstgeborene von den Toten“ zu sein. Es gibt hier keine Möglichkeit eines Verweises auf eine buchstäbliche Geburt oder den Beginn der Existenz.

Um das bildliche Verständnis von „gezeugt“ weiter zu unterstützen, führt uns der Hebräerbrief zu Psalm 2,7 zurück: „So hat auch Christus sich nicht selbst die Ehre beigelegt, Hoherpriester zu werden, sondern der, der zu ihm gesagt hat (Ps 2,7): Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“ (Hebr 5,5).

Dieser Vers zeigt uns das, was einer Definition von „gezeugt“ – erhaben (als Hoherpriester) – nahekommt. In diesem Zusammenhang gibt es überhaupt nichts, was „gezeugt“ mit einer physischen Geburt in Verbindung bringen könnte. Stattdessen hatte der Vater den „Sohn" in die glorreiche Position eines „Hohenpriesters" „gezeugt“.

In einem Fall verwendet der Hebräerbrief den Begriff „eingeborener Sohn“ (monogenes) aus Johannes 3,16: „Durch den Glauben opferte Abraham, als er geprüft wurde, Isaak, und der die Verheißungen empfangen hatte, opferte seinen eingeborenen Sohn“ (Hebr 11,17). Auch hier kann der Begriff „eingeborener“ [oder „einziger“] Sohn nicht in einem physisch-wörtlichen Sinn verstanden werden. Wörtlich und physisch gesehen war Isaak nicht Abrahams „eingeborener" [oder „einziger“] Sohn. Er hatte einen früheren Sohn, Ismael. Daher muss der Ausdruck „eingeborener“ eine bildliche Interpretation haben. Isaak war der Erbe der Verheißung Gottes geworden. Gottes Segen würde durch ihn kommen, nicht durch Ismael. In diesem übertragenen Sinne muss der Begriff „eingeborener“ Sohn verstanden werden.

Als Gott zu Abraham kam, um ihn zu prüfen, bat er ihn, Isaak, seinen lange verheißenen Sohn, als Brandopfer darzubringen. In Übereinstimmung mit dem Hebräerbrief wird Isaak als sein „einziger“ Sohn bezeichnet: „Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde“ (1. Mose 22,2).

Abraham muss auch gewusst haben, dass „einziger“ Sohn eine bildliche Bedeutung hatte und sich auf den Sohn der Verheißung bezog. Sonst hätte er vielleicht stattdessen Ismael vorgeschlagen. Isaak war der Sohn, den er „liebte“. Isaak war derjenige, der dem Ismael vorgezogen wurde.

Im letzten Moment griff Gott ein und stellte anstelle von Isaak einen Widder für das Opfer bereit. Es lag im Verborgenen, warum ein Opfer gebracht werden musste. Merkwürdigerweise nannte Abraham den Berg „Der HERR wird dafür sorgen“ [nach der englischen ESV] oder „Jahwe sorgt vor“ [nach der Neuen evangelistischen Übersetzung] anstelle des eher zum Gedenken passenden Namens „Der HERR hat dafür gesorgt“ (1. Mose 22,14a). Luther übersetzt mit „Der HERR sieht“, die Elberfelder mit „Der HERR wird ersehen“.

Ja, der Herr hatte bereits durch die Bereitstellung des Widders vorgesorgt, aber anscheinend wollte Gott, dass seine Vorsorge auf dem Berg Morija dort nicht aufhört. Es blieb die Zukunftserwartung: „ … wie es bis heute heißt: Auf dem Berg des HERRN wird dafür gesorgt werden!“ (1. Mose 22,14b nach der englischen ESV).

Wofür könnte der HERR vorgesorgt haben? Es müsste etwas sein, das glorreicher ist, als der Widder oder die Bereitschaft Abrahams, Isaak zu opfern. Wenn es etwas Geringeres sein würde, wäre es enttäuschend. Es müsste etwas sein, das die Erwartung Israels verdient. Es müsste auch so etwas wie Abrahams Opfer sein. Gott hatte Abraham gebeten, seinen eingeborenen/einzigen Sohn zu opfern, das Kind seines eigenen Leibes, das Kind der Verheißung. Würde Gott weniger tun, als er Abraham gebeten hatte zu tun?

Als Jesus mit der religiösen Führung über seine Identität stritt, behauptete er, dass diejenigen, die sein Wort hielten, niemals den Tod sehen würden (Joh 8,51) und setzte sich selbst mit Gott gleich. Nachdem sie ihn mit Beschimpfungen überhäuft hatten, enthüllte er: „Abraham, euer Vater, wurde froh, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich. … Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham wurde, bin ich“ (Joh 8,56-58).

Wann hat Abraham Jesu Tag gesehen? Vielleicht erkannte Abraham, dass seine zermürbende dreitägige Reise auf den fernen Berg mehr als nur eine Prüfung seines Gehorsams war, dass sie mehr noch als eine prophetische Offenbarung des Gehorsams des Sohnes Gottes war: „Ich schwöre bei mir selbst, spricht der HERR, deshalb, weil du das getan und deinen Sohn, deinen einzigen Sohn, mir nicht vorenthalten hast, darum werde ich dich reichlich segnen“ (1. Mose 22,16-17 rev ELB).

Wie konnte Gott das bewerkstelligen? Mit einem Opfer? Abraham hatte seinen „einzigen“ Sohn nicht vorenthalten; ebenso hat Gott seinen „eingeborenen Sohn“ nicht zurückgehalten.

Anmerkungen

  1. Wenn nicht anders angegeben, stammen die Bibelzitate aus der Luther-Bibel 1984.
  2. H. Wayne House, Hrsg., Charts of Cults, Sects, and Religious Movements (Zondervan: Grand Rapids, 2000), 66. In ähnlicher Weise schrieb Brigham Young: „Die Geburt des Erlösers war so natürlich wie die Geburten unserer Kinder; sie war das Ergebnis natürlichen Handelns. Er nahm an Fleisch und Blut teil – er wurde vom Vater gezeugt, wie wir von unseren Vätern gezeugt wurden" (Journal of Discourses 8:115).
  3. Das hebräische Wort für „gezeugt“ ist das sehr gebräuchliche Wort yalad, das oft eine physische Geburt bezeichnet.
  4. Obwohl dieser Vers an sich nicht die Gottheit Jesu beweist, legt der letzte Vers des Psalms dies doch sehr nahe: „Wohl allen, die auf ihn trauen!“ (Ps 2,12). Wir sollen nur auf Gott vertrauen. Der „Sohn" muss also Gott sein.
  5. Abraham Cohen, Hrsg., Soncino Books of the Bible (London: The Soncino Press Ltd., 1958), 4.
  6. Walter Martin, Kingdom of the Cults (Minneapolis: Bethany House Publishers, 2003), 114-15.
  7. Offenbarung 1,5 bezieht sich im gleichen übertragenen Sinne auch auf den „Erstgeborenen von den Toten".

Daniel Mann lehrt seit 1992 an der New York School of the Bible und führt eine Blogseite bei www.MannsWord.blogspot.com.

Dieser Artikel erschien erstmals in der Practical Hermeneutics Column der Zeitschrift Christian Research Journal, Band 34, Nummer 02 (2011). Das Christian Research Journal ist eine Publikation des Christian Research Institute (CRI), des christlichen Dienstes von Hank Hanegraaff, der die Sendung Bible AnswerMan moderiert. Weitere Informationen über das CRI finden Sie unter www.equip.org und www.youtube.com/user/CRInstitute

Literaturempfehlung:
Wer war Jesus vor seiner menschlichen Geburt? (siehe www.wkg.gci.org, Menü Artikel/Titelverzeichnis)


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