Unsere Wertschätzung des Opfers Christi

Von Dr. Joseph Tkach

Beim Durchsehen einer Liste der 100 besten Romane, die seit dem Jahr 1900 geschrieben wurden, fielen mir zwei Einträge zum Autor Vladimir Nabokov auf. Da mir der Name nicht bekannt war, gab ich ihn in die Google-Suche ein und fand heraus, dass er nicht nur ein berühmter Romanschreiber war, sondern auch bekannt dafür ist, den Begriff „Donut-Wahrheit“ geprägt zu haben, um die Wahrheiten zu kennzeichnen, die nicht die ganze Wahrheit enthalten. Mir ist aufgefallen, dass einige der aktuellen Erklärungen zum Opfer Christi zu diesen Donut-Wahrheiten gehören. Bitte lassen Sie mich das erklären:

„Christus am Kreuz” von Carl Heinrich Bloch (1834–1890). Public Domain (Wikimedia Commons)
„Jesus starb, um den Zorn Gottes zu besänftigen, der durch eure Sünden verursacht wurde“, so lautet eine Botschaft, die von vielen Kanzeln gedonnert wird. Gemeint ist, dass Jesus sich zwischen Gott und uns stellen und leiden musste, um den ganzen Zorn Gottes über die sündige Menschheit auf sich zu nehmen. Viele Christen akzeptieren diese Strafsubstitutionslehre vom Sühneopfer Christi (manchmal auch forensische Theorie genannt) als die primäre Lehre der Bibel zu diesem Thema. Leider hinterlässt die Überbetonung dieser Lehre den Eindruck, dass Christus nicht stellvertretend für die Sünder starb, sondern als Ersatzobjekt für die Strafe Gottes. Es wird fälschlicherweise so verstanden, dass Gott, der Vater, seinen Zorn an jemandem auslassen musste – als ob das Zufügen von Schmerz und Leid an jemandem selbst die Dinge besser machen würde.

Es gibt erhebliche Probleme mit dieser Lehre (Modell) vom Sühneopfer. Eines davon ist, dass die Bibel nicht nur ein, sondern mehrere Erklärungen verwendet, um den Reichtum des Sühnewerks Christi für uns zu beschreiben, darunter das Opfermodell, das ökonomische Modell des Tauschs (Erlösung), das familiäre oder kindliche Modell der Familie (Versöhnung), das eheliche Modell (Treue) und das Heilungsmodell (Frieden, Schalom). Wie Gustaf Aulen in Christus Victor, An Historical Study of the Three Main Types of the Idea of Atonement (Christus Victor, Eine historische Studie über die drei Haupttypen des Sühnegedankens) aufzeigt, präsentiert die Bibel auch ein Christus-der-Sieger-Modell (Christus Victor) des Sühnegedankens, das von den frühen Kirchenvätern primär gelehrt wurde. Nach diesem Modell ist „das Werk Christi in erster Linie ein Sieg über die Mächte, die den Menschen in Knechtschaft halten: Sünde, Tod und Teufel“ (Christus Victor, S. 20). Anstatt ans Kreuz zu gehen, um Gottes Zorn zu besänftigen, tat Christus dies, um den Sieg über die Knechtschaft der Sünde, die Bedrohung durch den Tod und die Macht des Teufels zu erringen und sich damit alles untertan zu machen. So wie Gott Israel aus der Knechtschaft der Unterdrückung in die Freiheit geführt hat, so befreit Gott uns von diesen schrecklichen Formen der Unterdrückung in die wahre Freiheit in Christus.

Einige Theologen wie Gregory Boyd und Scot McKnight lehren, dass das Christus-der-Sieger-Modell als das zentrale biblische Sühnemodell angesehen werden sollte und das forensische Modell nur als eines unter anderen. Einige Theologen, die die Stellung des forensischen Modells befürworten, äußern sich warnend zu diesem Ansatz. J.I. Packer warnt, dass es sich nicht allein auf menschliche Gerechtigkeitsmodelle stützen sollte (die oft vergeltend oder reziprok sind) und nicht als automatische Erklärung dafür verstanden werden sollte, wie die Strafsubstitution wirklich funktioniert. John Stott listet in The Cross of Christ (Das Kreuz Christi) mehrere Warnungen vor einer falschen Darstellung der Natur des Sühneopfers auf.

Probleme mit der Strafsubstitutionslehre
Es ist sicherlich wahr, dass Christi Tod den Preis, die Kosten, die Schuld und sogar die Strafe für unsere Sünde bezahlt hat. Jesus hat uns vor den Folgen unserer Sünde gerettet und hat selbst diese Folgen erfahren, um sie zu überwinden und sie für uns zu verwandeln. Aber das Modell der stellvertretenden Versöhnung kann zu weit getrieben werden. Hier sind einige der üblichen Ansichten:

  • Die falsche Darstellung, dass der Vater den Sohn gezwungen habe, etwas zu tun, was er nicht tun wollte, spaltet den Willen Gottes und schafft einen Gegensatz zwischen dem Vater und dem Sohn.
  • Die falsche Darstellung, dass der Sohn den Vater manipuliere, beschwichtige oder umschmeichele, damit er seine Meinung über die Verurteilung der Menschheit ändert – auch hier wird der Wille Gottes gespalten.
  • Die Charakterisierung des Vaters als zorniger Gott wird gegen die Liebe Christi ausgespielt. Dieser Fehler stellt Gott gegen Gott, als ob der Charakter und die Absicht Gottes geteilt und uneins wären.
  • Das Modell der Versöhnung beruht auf menschlichen Modellen der Vergeltung oder Rache, die in der Gewalt verwurzelt sind und eher wie Kindesmissbrauch statt wie Gnade aussehen – als könne menschlicher Zorn „die Gerechtigkeit Gottes bewirken, obwohl er das eben nicht tut.
  • Die Darstellung des Sünders als Objekt des Zorns Gottes statt dafür die Sünde des Sünders aufzuzeigen. Dieser falsche Ansatz verliert die biblische Wahrheit aus den Augen, dass das Ziel Gottes darin besteht, den Sünder von der Sünde zu trennen, auf dass die Sünde beseitigt und der Sünder erlöst werden kann.
  • Die Ansicht, die alttestamentlichen Opfer seien ein Mittel Gottes, seinen Zorn über sie auszuschütten und sie anstelle von Israel in die „Hölle“ zu schicken. Die Wahrheit ist, dass die Opfertiere nicht bestraft wurden, sondern als makellose Geschöpfe ihr Leben opferten, damit andere am Leben blieben, wo es sonst nur den Tod gab.
  • Die falsche Auslegung von Vergebung, da Gott Ausnahmen für die Sünde im Leben einiger zulassen würde. Die Wahrheit ist, dass Gott überall unerbittlich gegen alle Sünde vorgeht und dass durch Christus es möglich geworden ist, alle Sünde zu verurteilen, jedoch alle Sünder zu retten, indem er ihnen eine neue, geläuterte Natur gibt und alles neu macht.
  • Die Ansicht, Gott als absolut getrennt von den Sündern darzustellen. Diese falsche Darstellung widerspricht der Tatsache, dass Gott unter Israel wohnte und dass Jesus Mensch wurde und unter den Menschen lebte.
  • Man möchte Gott eine Rolle zuschreiben, die eigentlich die des Satans ist (dessen Name „Ankläger“ bedeutet), und versucht damit, Gott zum Ankläger der Menschheit machen (weil die Menschheit unheilig und unwürdig ist) und man beabsichtigt, Gott so darstellen, als wolle er die Verurteilung der Sünder und nicht ihre Umkehr (das war der Fehler, den Jona machte!).
  • Betrachtung der Gnade als ein sekundäres, separates und optionales Werk Gottes, nachdem sein vorrangiges und notwendiges Werk der gerichtlichen Gerechtigkeit vollbracht wurde.
  • Die Trennung von Gottes Gerechtigkeit und Gottes Liebe; sowie die Trennung seiner Gerechtigkeit von seiner Barmherzigkeit und Gnade.
  • Die Darstellung, dass Gott mehr an seine eigenen Regeln der vergeltenden Gerechtigkeit gebunden sei (das Böse zu bestrafen und das Gute zu belohnen), als an seine wiederherstellende Gerechtigkeit und seinen Wunsch nach Wiederherstellung seiner Bundesliebe (wo Gottes Gerechtigkeit darauf abzielte, die Dinge richtigzustellen).
  • Die ausschließliche Betonung darauf, dass der Sünder von der Strafe oder den Folgen der Sünde gerettet wird, anstatt darauf, dass der Sünder von der Sünde gerettet wird und Anteil an der erneuerten und verherrlichten menschlichen Natur Christi erhält. Die Wahrheit ist, dass wir von der Sünde gerettet werden, um eine echte Beziehung der heiligen Liebe mit Gott als seine geliebten Kinder haben zu können.
  • Sie übersehen die Inkarnation, das Kreuz und die Auferstehung und damit die Wahrheit, dass der Sohn Gottes der neue Adam – das neue Haupt der Menschheit – geworden ist, der gekommen ist, um im Auftrag des Vaters und im Heiligen Geist die Welt mit Gott zu versöhnen und nicht, um die Welt zu verdammen.

Das ganze Bild sehen
Eine treue und genaue Betrachtung des Sühnewerkes Christi wird die gesamte biblische Geschichte und Lehre berücksichtigen. Wenn ein Aspekt dieser Wahrheit herausgegriffen und isoliert entwickelt wird, führt das unweigerlich zu einer Verzerrung. Aber wenn wir alle Teile zusammenfügen, ihnen allen volles Gewicht geben und dabei Jesus im Zentrum behalten, sind wir auf dem richtigen Weg. Dieser ganzheitliche Ansatz behält die Beziehung Christi zum Vater und zum Heiligen Geist und seine Beziehung zu uns und den Grund, warum er gekommen ist, klar im Blick.

Das ist es, was der Apostel Paulus tat, als er schrieb, dass Gott seine Liebe in Jesus Christus verschwenderisch über uns ausgegossen hat, um die Sünde in seinem Fleisch zu verurteilen, damit wir sein neues Leben und seine Liebe durch den Heiligen Geist in uns haben (Eph 1,7-8; Röm 8,3-4). Der Autor des Hebräerbriefs fügt hinzu, dass Jesus Christus den Preis bezahlt hat, um diese Versöhnung frei und gerne herbeizuführen, vereint in Herz, Verstand und Willen mit dem Vater und dem Heiligen Geist (Hebr 12,2; 9,14). Die Bibel lehrt, dass das Sühnewerk Jesu ein Akt der ewigen, göttlichen Liebe des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes war.

Wir verstehen Gott und seine überschwängliche Liebe zu uns durch das Leben Jesu und besonders durch seinen aufopfernden Tod. Wie T.F. Torrance in The Mediation of Christ (Das Vermittleramt Christi] feststellt, „ist das Kreuz ein Fenster, das sich in das Herz Gottes öffnet“. Das Kreuz offenbart einen Gott, der die Welt leidenschaftlich liebt, nicht einen, der wütend auf sie ist. In der Tat hat Gott die Welt so sehr geliebt, dass er seinen Sohn gab.

Gott hasst die Sünde, aber er hasst sie, weil sie der Welt, die er liebt, schadet; sie schadet seiner geliebten Schöpfung. Gott gießt seinen Zorn nicht über das Objekt seiner Liebe aus – weder über Jesus noch über eines seiner anderen Kinder. Jesus ging nicht ans Kreuz, um einen zornigen Gott zu besänftigen, sondern um deutlich die bedingungslose Liebe eines Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes zu zeigen, dessen größter Wunsch es ist, mit uns in Beziehung zu sein. Und das ist keine Donut-Wahrheit – es ist die ganze Wahrheit des Evangeliums!

Literaturempfehlung:
Stellungnahme zur Strafsubstitution von Santiago Lange. Diesen Artikel finden Sie im Titelverzeichnis unter dem Menü Artikel auf unserer Webseite.


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