Hat Gott der Vater Jesus am Kreuz verlassen?
Von Jonathan Stepp

Als Jesus am Kreuz verschied, schrie er: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46; Mk 15,34).

Diesen Ausspruch finden wir auch in der ersten Zeile des Psalms 22 wieder. In manchen theologischen Kreisen wird dies gemeinhin so interpretiert, dass Gott der Vater sich in jenem Moment von seinem Sohn abkehrte. Als Grund für die Abkehr des Vaters vom Sohn wird angeführt, Jesus habe die Sünden der Welt getragen und die Heiligkeit Gottes sei mit der Gegenwart von Sünde nicht vereinbar.

Hatte Gott der Vater also Jesus am Kreuz verlassen? Dieser Artikel soll darlegen, dass dies nicht der Fall war.

Wir können bei dem Gedanken ansetzen, wo Sünde ist, könne Gott nicht sein. Wenn dies zuträfe, hätten wir arge Probleme. Unsere Sünden haften wie Schmutz an unserer Kleidung, nur können wir uns, so sehr wir uns auch bemühen, nicht von ihnen reinwaschen. Es ist uns nicht möglich, sie wegzuwischen und unbefleckt dazustehen. Wenn wir uns also unserer Sünden nicht entledigen können und Gott mit der Gegenwart von Sünde unvereinbar ist, wären wir für immer verloren.

Warum? Weil Gott der Einzige ist, der uns helfen kann, und so kommt er zwangsläufig mit dem Schmutz unserer Sündhaftigkeit in Berührung, um uns von ihr reinzuwaschen. Er kann in der Tat sein, wo Sünde ist. Er hat die Sünden für uns getragen, ist jedoch so heilig, dass sie ihn in keinster Weise beflecken.

Wenn Gott die Sünde berührt, vernichtet er sie; sie selbst kann ihm nichts anhaben. Die Annahme, der Vater habe seinen Sohn verlassen, wirft eine weitere Problematik auf: eine ungenaue Sichtweise der Beziehung zwischen Vater und Sohn. Obwohl sie zwei voneinander unabhängige Personen innerhalb der Gottheit sind, sind sie vom Wesen her nicht voneinander getrennt. Und obgleich jeder von ihnen einzigartig ist (der Sohn beispielsweise vom Vater gezeugt, der Vater hingegen nicht gezeugt), sind beide zusammen mit dem Heiligen Geist der eine wahre Gott Israels.

Jesus sagt: „Ich lebe im Vater und der Vater in mir“ (Joh 14,11; Gute Nachricht Bibel). Wenn der Sohn die Sünden der Welt trägt, trägt sie damit auch Gott. Jesus ist nicht losgelöst von Gott zu sehen. Er ist von der Empfängnis über den Tod bis hin zur Himmelfahrt vollkommen Gott im Fleische. Zu postulieren, der Vater könne sich vom Sohn trennen und damit einen Bruch innerhalb der Gottheit vollziehen, hieße, dass es entweder zwei Götter gäbe oder dass Jesus in irgendeiner Form weniger wert sei als Gott.

Dass Gott der Vater seinen Sohn nicht verließ, lässt sich anhand mehrerer Punkte belegen: Erstens ist Jesus drei Tage später auferstanden. Der Psalmist sagt: „Du Herr wirst mich nicht der Totenwelt preisgeben! Du wirst nicht zulassen, dass ich für immer im Grab ende“ (Ps 16,10; Gute Nachricht Bibel).

In seiner Pfingstpredigt, der ersten im Evangelium, zitiert Petrus diesen Vers, um seiner Gemeinde deutlich zu machen, dass, obgleich Jesus am Kreuz verlassen zu sein schien, seine Auferstehung zeige, dass dies nicht der Fall war und er deshalb der Erlöser ist (Apg 2,23-36).

Darüber hinaus müssen wir lediglich Psalm 22 zu Ende lesen, um dies zu erkennen. (Vielleicht wollen Sie dies gleich jetzt tun, bevor Sie diesen Artikel abschließen?) Psalm 22 beschreibt einen Menschen, der sich von Gott verlassen fühlt, dies tatsächlich aber nicht ist. Im Verlauf seiner seelischen Aufarbeitung erreicht David einen Punkt tief empfundenen Glaubens und großen Triumphes: Die Erkenntnis, dass Gott trotz seines Gefühls der Verlassenheit dennoch tatsächlich bei ihm ist und ihn wiederaufrichten wird.

Achten Sie besonders auf Vers 25: „Denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen ...“.

Es sei jedoch ausdrücklich auf eines hingewiesen: Es ist nicht das Gleiche zu postulieren, der Vater habe seinen Sohn nicht aufgegeben und er selbst habe am Kreuz gelitten. Es handelt sich bei dieser Gleichsetzung um eine ebenso alte wie falsche Vorstellung, in deren Zusammenhang man von Patripassianismus spricht. Es ist der Sohn, der am Kreuz leidet, aber der Vater wendet sich während seines Leidens nicht von ihm ab. Es ist der Sohn, der die Sünden der Welt auf sich nimmt, aber der Vater verlässt ihn nicht, während er den Akt der Erlösung vollbringt.

Was ist es denn, was Jesus zum Ausdruck bringt, als er schmerzerfüllt aufschreit? Der Schlüssel zum Verständnis seiner Gefühle in jenem Moment liegt in seinem Menschsein. Es ist Jesus in seinem Menschsein aus Fleisch und Blut, der so aufschreit. Er fühlt sich verlassen, obgleich er es tatsächlich nicht ist. Er fühlt sich verlassen, obwohl sein Vater ihm zur Seite steht. Warum? Weil man als Mensch genau so empfindet, wenn man sich von seinen Freunden verraten und verlassen fühlt und Todesqualen zu erleiden hat.

Auch wir fühlen uns von Gott verlassen, wenn wir so schmerzerfüllte Momente zu ertragen haben. David erging es, wie in Psalm 22 beschrieben, ebenso, und so fühlte sich auch Jesus als Mensch aus Fleisch und Blut.

Man mag fragen: „Wenn Jesus vollkommen Gott ist und Gott allwissend, hätte er dann nicht wissen müssen, dass er tatsächlich eben nicht verlassen war?“ An dieser Stelle ist entscheidend zu verstehen, was Inkarnation ist. Mit der Fleisch- und Blutwerdung des ewigen Gottessohns begrenzt sich ebendieser auf eine Existenz aus Fleisch und Blut.

Gott der Sohn beispielsweise ist überall existent, als Fleisch gewordener Jesus aber war er jeweils nur an einem Ort zur Zeit existent – und musste als solcher von einem Ort zum nächsten reisen. Das Wort Gottes ist allwissend, als fleischlicher Mensch aber musste Jesus wie jeder andere auch heranwachsen und lernen. Der Sohn versteht alles sofort, als Mensch jedoch wurde Jesus vom Heiligen Geist geführt und erfuhr so nur, was ihm der Vater offenbarte. Kein Wunder also, dass es im alten Lobgesang der Gemeinde heißt: „Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil 2,6-11).

Jesus weiß, dass er mit seinem Kreuzestod dem Willen seines Vaters entspricht und damit die Welt errettet; ihm erschließt sich jedoch nicht im Detail, was mit ihm geschieht. Und wie jedes menschliche Wesen, das nicht alles weiß, empfindet er im Wirrwarr der Gefühle die sinnlose Agonie seines Leidens, auch wenn er weiterhin vom Glauben an die Güte und Liebe Gottes getragen ist.

Und wiederum zur Verdeutlichung: Mit der Anerkennung des Menschseins Jesu scheiden wir seine Existenz als Mensch nicht von seiner Göttlichkeit. Er ist nicht in einem Moment Mensch und im nächsten göttlicher Natur. Er ist von der Empfängnis über den Tod bis hin zur Himmelfahrt stets vollkommen Gott und vollkommen Mensch. Der Punkt ist folgender: Jesus macht von seinen göttlichen Vorrechten keinen Gebrauch. Als Mensch aus Fleisch und Blut leben heißt, dass er ein normales menschliches Leben mit all den Versuchungen, denen auch wir ausgesetzt sind, führt, ohne sich jedoch zu versündigen (Hebr 4,15). Selbst die Wunder, die er vollbrachte, entsprangen nicht seiner vollkommenen göttlichen Natur, sondern gehen darauf zurück, dass er vom Heiligen Geist erfüllt dem Willen seines Vaters entsprach.

Warum sollte uns all das etwas sagen? Weil zu unserem Leben auch Leid gehört. Wir sind Verrat, Verlassenheit und Schmerz ausgesetzt. Auf uns wartet der Tod. Und in jenen Zeiten des Leidens und der Mühsal sind wir schon versucht zu denken: „Gott hat sich von mir abgekehrt; er bestraft mich für meine Sünden; er würde mir beistehen, wenn ich ein besserer Christ wäre; er wird mich erlösen, wenn ich ‘meine Lektion lerne’ und mein Leben mit ihm aussöhne.“ Im Grunde schreien auch wir dann auf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Wenn wir glauben, Jesus sei tatsächlich von seinem Vater verlassen worden, können wir möglicherweise unseren Glauben an Gottes Liebe verlieren und annehmen, er könnte auch uns vielleicht im Stich lassen.

Wenn wir andererseits vom Glauben her überzeugt sind, dass die Gerechten nie verlassen sind (Ps 37,25) und wir durch das, was Jesus getan hat, gerecht vor Gott sind, dann werden wir auch von dem Glauben getragen, dass er uns nie im Stich lassen wird.

Wenn wir vom Glauben her überzeugt sind, dass der Sohn selbst mit der Last der Sünde der ganzen Welt nicht von seinem liebenden Vater verlassen wurde, wissen wir auch, dass unser Vater uns ungeachtet unserer Sünden nie verlassen wird. Wenn wir vom Glauben her überzeugt sind, dass Gott Jesus durch die Auferstehung errettete, ist uns gewiss, dass er auch uns errettet hat.

Die Zweifel und Finsternis, denen Jesus ausgesetzt war, spiegeln die Realität des leidenden Menschen wider, nicht jedoch die Tatsache, wie Gott uns sieht und zu uns steht. Jesus fühlte sich verlassen, so wie wir gelegentlich auch, aber war Gott stets bei ihm. Jesu Leben offenbart: Selbst wenn wir uns verlassen fühlen, ist Gott bei uns und steht auf unserer Seite.

Kurz gesagt: Jesus fühlte sich einmal verlassen, auf dass wir uns nie mehr verlassen zu fühlen brauchen. Und noch ein weiterer Gedanke zur Fleischwerdung: Jesu Göttlichkeit fordert von ihm ebenso wenig, alles zu tun, was Gott tut, wie sie auch nicht von ihm fordert, alles zu tun, was Menschen tun. Anders ausgedrückt, Jesu Menschsein ist unabhängig davon zu sehen, dass er nie so menschliche Ziele realisierte wie z.B. zu heiraten. Und so ist auch seine göttliche Natur unabhängig davon zu sehen, dass er sich nicht typisch göttlicher Attribute wie der Allwissenheit bediente.

Gott- und Menschsein Jesu gründen sich auf seine Natur, darauf also, wer und was er ist, nicht aber auf sein Tun. Und es ist seine Beziehung zu Gott, die ausmacht, wer er ist.

Kern unserer Lebenswirklichkeit – unserer Beziehung zu Gott – ist, dass wir als Menschen erschaffen wurden. Das ist unsere Natur. Jesus aber ist in seiner Beziehung zu Gott ganz Gott und ganz Mensch. Das ist seine Natur unabhängig davon, ob sein Handeln alle Facetten des Gott- bzw. Menschseins widerspiegelt.


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