Die Verwandlung von Wasser in Wein

Von Dr. Joseph Tkach

Das Johannesevangelium erzählt eine interessante Geschichte, die sich in etwa zu Beginn von Jesu Wirken auf Erden zugetragen hat: Er ging auf eine Hochzeit, auf der er Wasser in Wein verwandelte.

Diese Geschichte ist in mancherlei Beziehung ungewöhnlich: Was sich da zutrug, nimmt sich wie ein kleines Wunder aus, ähnelt eher einem Zaubertrick als einem messianischen Werk. Zwar verhinderte es eine etwas peinliche Situation, wandte sich jedoch nicht so direkt gegen menschliches Leid wie die von Jesus vorgenommenen Heilungen.

Es war ein im privaten Kreis vollbrachtes Wunder, das sich ohne Wissen des eigentlich Begünstigten ereignete – nichtsdestotrotz war es ein Zeichen, das die Herrlichkeit Jesu offenbarte (Joh 2,11).

Die literarische Funktion dieser Geschichte ist schon etwas rätselhaft. Johannes wusste von wesentlich mehr Wundern Jesu zu berichten als er je in seinen Schriften hätte berücksichtigen können, dennoch wählte er gerade dieses für den Anfang seines Evangeliums. Inwiefern dient es Johannes’ Ziel, uns zu überzeugen, dass „Jesus der Christus ist“ (Joh 20,30-31)? Inwiefern zeigt es auf, dass er der Messias ist und nicht (wie es der jüdische Talmud später behauptete) ein Magier?

Die Hochzeit zu Kana
Wenden wir uns nun einer eingehenderen Betrachtung der Geschichte zu. Sie beginnt mit einer Hochzeit in Kana, einem kleinen Dorf in Galiläa. Der Ort scheint dabei nicht so sehr von Bedeutung zu sein – vielmehr dagegen die Tatsache, dass es sich um eine Hochzeit handelte. Jesus tat sein erstes Zeichen als Messias anlässlich einer Hochzeitsfeier.

Hochzeiten waren die größten und bedeutendsten Feste der Juden – die wochenlangen Feierlichkeiten signalisierten den sozialen Status der neuen Familie innerhalb der Gemeinde. Hochzeiten waren derartige Freudenfeste, dass man häufig metaphorisch vom Hochzeitsbankett sprach, wenn man die Segnungen des messianischen Zeitalters beschreiben wollte. Jesus selbst zog dieses Bild zur Beschreibung von Gottes Reich in einigen seiner Gleichnisse heran.

Oft vollbrachte er Wunder im weltlichen Leben, um damit geistliche Wahrheiten zu verdeutlichen. So heilte er Menschen, um zu zeigen, dass er über die Macht der Sündenvergebung verfügt. Er verfluchte einen Feigenbaum zum Zeichen des bevorstehenden Gottesurteils, das den Tempel heimsuchen sollte. Er heilte am Sabbat, um damit seine Vorrangstellung gegenüber diesem Feiertag zum Ausdruck zu bringen. Er ließ Tote wieder auferstehen, um damit zu zeigen, dass er die Auferstehung und das Leben ist. Er speiste Tausende, um so zu unterstreichen, dass er das Brot des Lebens ist. Bei dem von uns betrachteten Wunder nun bescherte er einer Hochzeitsgesellschaft segensreiche Gaben in Hülle und Fülle, um damit zu zeigen, dass er es ist, der für das Festbankett des Messias im Reich Gottes sorgen wird.

Der Wein war ausgegangen, und Maria verständigte Jesus, worauf dieser ihr entgegnete: „... was habe ich mit dir zu schaffen?“ (V. 4, Zürcher Bibel). Oder mit anderen Worten, was habe ich damit zu tun? „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ Und auch wenn es noch nicht an der Zeit war, handelte Jesus. Johannes weist an dieser Stelle darauf hin, dass Jesus mit seinem Tun seiner Zeit gewissermaßen voraus ist. Das Festbankett des Messias war noch nicht gekommen, und dennoch handelte Jesus. Das Zeitalter des Messias hatte begonnen, lange bevor es in seiner Vollkommenheit anbrechen sollte.

Maria erwartete, dass Jesus etwas tat; denn sie wies die Diener an zu tun, was immer er ihnen auch sagen mochte. Ob sie dabei an ein Wunder dachte oder an einen kurzen Abstecher zum nächstgelegenen Weinmarkt, wissen wir nicht.

Rituellen Waschungen dienendes Wasser wird zu Wein
Es war nun so, dass in der Nähe sechs steinerne Wasserbehälter standen, die sich jedoch von den üblichen Wasserkrügen unterschieden. Johannes berichtet uns, dass es sich um die von den Juden für rituelle Waschungen verwendeten Behälter handelte. (Für ihre Reinigungsbräuche bevorzugten sie Wasser aus steinernen Behältern anstelle der sonst verwendeten Keramikgefäße.) Sie fassten jeweils mehr als 80 Liter Wasser – bei weitem zu viel, um sie anheben und daraus einschenken zu können. Für rituelle Waschungen jedenfalls eine riesige Menge Wasser. Diese Hochzeit zu Kana muss schon in wirklich großem Rahmen begangen worden sein!

Diesem Teil der Geschichte scheint große Bedeutung zuzukommen – Jesus war im Begriff, für jüdische Waschungsriten bestimmtes Wasser in Wein zu verwandeln. Dies symbolisierte im Judentum eine Wandlung, es war sogar mit dem Vollzug ritueller Waschungen gleichzusetzen. Stellen Sie sich einmal vor, was geschehen wäre, wenn Gäste ihre Hände nochmals hätten waschen wollen – sie wären zu den Wassergefäßen gegangen und hätten ein jedes von ihnen mit Wein gefüllt vorgefunden! Für ihren Ritus selbst wäre kein Wasser mehr vorhanden gewesen. Somit löste die spirituelle Reinwaschung durch das Blut Jesu die rituellen Waschungen ab. Jesus vollzog diese Riten und ersetzte sie durch etwas viel Besseres – sich selbst.

Die Diener füllten die Behälter bis oben hin, wie Johannes uns in Vers 7 berichtet. Wie passend; denn auch Jesus wurde den Riten im vollen Umfang gerecht und machte sie damit obsolet. Im Zeitalter des Messias ist für rituelle Waschungen kein Platz mehr.

Die Diener schöpften nun etwas Wein ab und trugen ihn zum Speisemeister, der daraufhin zum Bräutigam sagte: „Jedermann gibt zuerst den guten Wein und, wenn sie betrunken werden, den geringeren; du aber hast den guten Wein bis jetzt zurückbehalten“ (V. 10).

Warum, meinen Sie, hat Johannes diese Worte festgehalten? Etwa als Rat für künftige Bankette? Oder lediglich, um zu zeigen, dass Jesus guten Wein macht? Nein, ich meine aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung. Die Juden glichen Menschen, die schon zu lange dem Wein zugesprochen hatten (ihre rituellen Waschungen vollzogen hatten), um noch merken zu können, dass etwas Besseres gekommen war. Die Worte Marias: „Sie haben keinen Wein mehr“ (V. 3) symbolisieren nichts anderes, als dass die Riten der Juden keine spirituelle Bedeutung mehr hatten. Jesus brachte etwas Neues und Besseres.

Die Tempelreinigung
Zur Vertiefung dieses Themas berichtet uns Johannes im Folgenden, wie Jesus die Händler aus dem Vorhof des Tempels vertrieb. Bibelkommentatoren lassen sich seitenweise über die Frage aus, ob es sich bei dieser Tempelreinigung um dieselbe handelt, die in den anderen Evangelien dem Ende des Wirkens Jesu auf Erden zugeschrieben wird oder ob es eben noch eine weitere zu Beginn gab. Wie dem auch sei, Johannes berichtet an dieser Stelle davon wegen der Bedeutung, die symbolisch dahinter steht.

Und wieder stellt Johannes die Geschichte in den Zusammenhang mit dem Judentum: „... das Passafest der Juden war nahe“ (V. 13). Und Jesus fand im Tempel Menschen vor, die dort Tiere verkauften und Geld wechselten – Tiere, die als Opfergaben der Gläubigen zur Sündenvergebung dargebracht wurden, und Geld, das dazu diente, die Tempelsteuern zu zahlen. Jesus bereitete eine einfache Geißel und jagte alle hinaus.

Es überrascht schon, dass ein Einzelner alle Händler hinauszujagen vermochte. (Wo ist die Tempelpolizei, wenn man sie braucht?) Ich nehme an, die Händler wussten, dass sie nicht hierher gehörten und dass auch viele der einfachen Leute sie hier nicht haben wollten – Jesus setzte lediglich in die Tat um, was die Menschen ohnehin schon spürten, und die Händler wussten, dass sie zahlenmäßig unterlegen waren. Josephus beschreibt andere Versuche jüdischer Glaubensführer, die Tempelbräuche zu ändern; in diesen Fällen erhob sich ein derartiger Aufschrei unter den Menschen, dass die Bemühungen abgebrochen wurden.

Jesus hatte nichts dagegen, dass Menschen Tiere zu Opferzwecken verkauften bzw. für Tempelopfer bestimmtes Geld wechselten. Er sagte nichts hinsichtlich der dafür geforderten Wechselgebühren. Was er anprangerte, war schlicht und einfach der dafür gewählte Ort: Sie waren dabei, das Haus Gottes in ein Warenhaus zu verwandeln (V. 16). Aus dem Glauben hatten sie ein gewinnbringendes Geschäft gemacht.

Die jüdischen Glaubensführer nahmen Jesus also nicht fest – wussten sie doch, dass das Volk guthieß, was er getan hatte –, aber sie fragten ihn, was ihm die Berechtigung gab, so zu handeln (V. 18). Jesus aber erklärte ihnen nicht, warum der Tempel nicht der richtige Ort für derartiges Treiben ist, sondern wandte sich einem völlig neuen Aspekt zu: „Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn wiedererstehen lassen“ (V. 19 Zürcher Bibel).

Jesus sprach von seinem eigenen Leib, was die jüdischen Glaubensführer jedoch nicht wussten. Zweifellos hielten sie seine Antwort also für lächerlich, nichtsdestotrotz nahmen sie ihn auch jetzt nicht fest. Jesu Auferstehung zeigt, dass er durchaus befugt war, den Tempel zu reinigen, und seine Worte deuteten bereits auf die bevorstehende Zerstörung desselben hin. Als die jüdischen Glaubensführer Jesus töteten, zerstörten sie damit auch den Tempel; denn der Tod Jesu machte alle zuvor dargebrachten Opfergaben hinfällig. Am dritten Tag darauf ist Jesus auferstanden und erbaute einen neuen Tempel – seine Gemeinde.

Und viele Menschen, so berichtet uns Johannes, glaubten an Jesus, weil sie seine Zeichen sahen. (In Johannes 4,54 heißt es, es sei das „zweite“ Zeichen; das lässt meiner Meinung nach den Schluss zu, dass über die Tempelreinigung außer der Reihe berichtet wurde, da sie ein Hinweis darauf ist, worum es beim Wirken Christi eigentlich geht.) Jesus bereitete sowohl dem Tempelopfer als auch den Reinigungsritualen ein Ende – und die jüdischen Glaubensführer halfen ihm auch noch unwissentlich dabei, indem sie versuchten, ihn körperlich zu vernichten. Innerhalb von drei Tagen jedoch sollte alles von Wasser in Wein verwandelt werden – aus totem Ritual sollte der ultimative Glaubenstrank werden.

Zur Verdeutlichung
Was wollen uns diese beiden Episoden heute vermitteln? Zunächst einmal, dass wir als Chris-ten uns schon manchmal fragen sollten, ob einige unserer Traditionen sich nicht überlebt haben und uns für neue Wege zur Umsetzung dessen, was Christus uns zu tun heißt, blind gemacht haben. Das könnte unsere Feiertage betreffen oder die Art und Weise, wie wir sie begehen. Es könnte sich auf die Organisations- und Führungsstruktur von Gemeinden beziehen oder auch auf unnötiges Kompetenzgerangel. Aber auch die Einstellung gegenüber der Verkündigung des Evangeliums gilt es gelegentlich zu hinterfragen.

Es steht uns frei zu hinterfragen, ob unsere Traditionen so gehaltlos geworden sind wie Wasser und ob Christus sie nicht vielleicht neu beleben möchte.

Wir können auch unsere Haltung in Geldangelegenheiten hinterfragen. Kommt Geld in unseren Augen mittlerweile ein höherer Stellenwert zu als unserer Beziehung zu Gott? Auch aus persönlicher Sicht können wir uns fragen, ob wir vielleicht dem Kommerz Zeit einräumen, die wir besser für die Gemeinschaft und unsere Glaubensbrüder und -schwestern nutzen sollten. Widmen wir Einkäufen und Bankgeschäften Zeit, die besser dem Gebet und dem Gottesdienst gewidmet wäre? Wir sollten doch gelegentlich darüber nachdenken – es ist es wert.


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