Unsichtbare Realität

Von Dr. Joseph Tkach

Ich finde es amüsant, wenn Menschen erklären: „Wenn ich es nicht sehen kann, werde ich es nicht glauben.“ Ich höre das oft, wenn Leute daran zweifeln, dass Gott existiert oder dass er alle Menschen in seine Gnade und Barmherzigkeit einschließt. Um nicht Anstoß zu erregen, weise ich darauf hin, dass wir weder Magnetismus noch Elektrizität sehen können, aber durch ihre Wirkungen wissen, dass es sie gibt. Das gleiche gilt vom Wind, der Gravitation, dem Schall und sogar den Gedanken. Auf diese Weise lernen wir, was unter „abstrakten Begriffen“ zu verstehen ist. Ich bezeichne dieses Wissen gerne als die Erkenntnis unsichtbarer Realität.

Bloß auf unsere Sehkraft vertrauend, konnten wir seit Jahren nur über das, was in den Himmeln war, spekulieren. Mit Hilfe von Teleskopen (wie z. B. dem Hubble Teleskop) wissen wir heute viel mehr. Was einst für uns „unsichtbar“ war, ist jetzt sichtbar. Doch nicht alles, was existiert, ist sichtbar. Dunkle Materie z. B. strahlt kein Licht und keine Wärme aus. Für unsere Teleskope ist sie unsichtbar. Die Wissenschaftler wissen jedoch, dass dunkle Materie existiert, weil sie ihre Gravitationseffekte herausgefunden haben. Ein Quark ist ein winzig kleines spekulatives Teilchen, aus denen sich im Kern der Atome Protonen und Neutronen bilden. Mit Gluonen, bilden Quarks auch noch exotischere Hadronen, wie Mesonen. Obwohl keines dieser Bestandteile eines Atoms je beobachtet wurde, haben Wissenschaftler ihre Wirkungen nachgewiesen.

Es gibt kein Mikroskop oder Teleskop, durch das Gott gesehen werden kann, so wie es uns die Schrift in Johannes 1,18 (Hfa) sagt: Gott ist unsichtbar: „Kein Mensch hat jemals Gott gesehen. Doch sein einziger Sohn, der selbst Gott ist und in enger Gemeinschaft mit dem Vater lebt, hat ihn uns gezeigt.“ Mit physischen Hilfsmitteln gibt es keine Möglichkeit, Gottes Existenz zu „beweisen“. Aber wir glauben, dass Gott existiert, weil wir die Auswirkungen seiner bedingungslosen, alles übertreffenden Liebe erfahren haben. Diese Liebe ist natürlich höchst persönlich, intensiv und konkret in Jesus Christus offenbart. In Jesus sehen wir, was seine Apostel folgerten: Gott ist Liebe.

Liebe, welche an sich nicht gesehen werden kann, ist Gottes Natur, Motivation und Zweck. So wie es T. F. Torrance darlegt: „Der ständige und unaufhörliche Ausfluss von Gottes Liebe, die keinen anderen Grund für sein Handeln hat, als die Liebe, die ja Gott ist, ist deshalb ohne Ansehen der Person und ohne Rücksicht auf ihre Reaktionen uneingeschränkt ausgegossen“ (Christian Theology and Scientific Culture, S. 84). Gott liebt, auf Grund dessen, wer er ist, nicht auf Grund dessen, wer wir sind und was wir tun. Und diese Liebe ist uns mittels Gottes Gnade offenbart.

Wir können zwar das Unsichtbare, wie Liebe oder Gnade, nicht vollständig erklären, wir wissen aber, es existiert, weil das, was wir sehen, teilweise vorhanden ist. Beachten Sie, ich benutze das Wort teilweise. Wir wollen nicht in die Falle der falschen Annahme tappen, dass das Sichtbare das Unsichtbare erkläre. T. F. Torrance, der Theologie und Wissenschaft studiert hat, stellt fest, dass das Gegenteil wahr ist; das Unsichtbare erklärt das Sichtbare. Um dies zu erläutern, benutzt er das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16), wo der Weinbergbesitzer den ganzen Tag Arbeiter anheuert, um auf den Feldern zu arbeiten. Am Ende des Tages bekommt jeder Arbeiter denselben Lohn bezahlt, auch wenn einige den ganzen Tag hart gearbeitet haben und andere nur ein paar Stunden arbeiteten. Den meisten Arbeitern, erscheint dies unfair. Wie konnte jemand, der nur eine Stunde arbeitet, den gleichen Lohn erhalten, wie jemand, der den ganzen Tag arbeitet?

Torrance weist darauf hin, dass die fundamentalistischen und liberalen Exegeten den Punkt von Jesu Gleichnis verfehlen, welcher nicht Löhne und Gerechtigkeit, sondern Gottes bedingungslose, großzügige und kraftvoll verwandelnde Gnade behandelt. Diese Gnade basiert nicht darauf, wie lange wir gearbeitet, wie lange wir geglaubt, wie viel wir studiert haben, oder wie gehorsam wir waren. Gottes Gnade basiert völlig auf dem, wer Gott ist. Mit diesem Gleichnis, macht Jesus die „unsichtbare“ Natur von Gottes Gnade „sichtbar“, der ganz anders als wir, die Dinge sieht und tut. In Gottes Reich geht es nicht darum, wie viel wir verdienen, sondern um Gottes überreichliche Großzügigkeit.

Jesu Gleichnis sagt uns, dass Gott seine wundervolle Gnade allen Menschen anbietet. Und während allen die Gabe in demselben Maße angeboten wird, wählen einige sofort in dieser Realität der Gnade zu leben und haben somit die Gelegenheit, sich länger daran zu erfreuen, als diejenigen, die diese Wahl noch nicht getroffen haben. Das Geschenk der Gnade ist gleichsam für alle. Was der Einzelne damit tut, ist sehr unterschiedlich. Wenn wir in Gottes Gnade leben, ist das, was für uns unsichtbar war, sichtbar geworden.

Die Unsichtbarkeit von Gottes Gnade macht sie nicht weniger real. Gott gab sich uns selbst, so dass wir ihn kennen und lieben und seine Vergebung empfangen und in eine Beziehung zu ihm als Vater, Sohn und Heiliger Geist eingehen können. Wir leben im Glauben und nicht im Schauen. Wir haben seinen Willen in unserem Leben, in unserem Denken und Handeln erlebt. Wir wissen, Gott ist Liebe, weil wir wissen, wer er in Jesus Christus ist, der ihn uns „gezeigt“ (oder wie es in der NGÜ zu Johannes 1,18 heißt) „offenbart hat“ Wir spüren die Kraft der Gnade Gottes, wie wir ebenso seine Absicht erfahren, uns zu vergeben und zu lieben – uns das wundervolle Geschenk seiner Gnade zu geben. So, wie es Paulus in Philipper 2,13 ausdrückt: „Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“


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