Bedeutet Gnade, Sünde sei zu tolerieren?

Von Dr. Joseph Tkach

Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die der Auffassung sind, sie müssten gegenüber der Sünde tolerant sein, um ganz in Gottes Gnade leben zu können. Vielleicht sind sie zu dieser falschen Einschätzung gekommen, weil ihr Ziel einfach nur darin bestand, den Legalismus zu vermeiden. Doch die Bibel sagt uns, dass das Leben in der Gnade bedeute, die Sünde zurückzuweisen, sie nicht zu tolerieren oder zu akzeptieren. Die Bibel ist deutlich: Gott ist gegen die Sünde – er hasst sie. Die Schrift sagt, dass Gott, der sich weigert, uns in unserem sündigen Zustand zu belassen, seinen Sohn gesandt hat, um uns zu erlösen. Gott kann unmöglich für uns sein, ohne entschieden gegen das zu sein, was uns schadet.

Jesu Lehre richtete sich gegen die Sünde. Zu der Frau, die beim Ehebruch ergriffen wurde, sprach er: „Ich verurteile dich … nicht; du darfst gehen. Sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh 8,11 GNÜ [1]). Jesu Aussage zeigt deutlich seine Abscheu gegenüber der Sünde und im Gegensatz dazu die Gnade, die sich mit rettender Liebe gegen die Sünde stellt. Es wäre ein tragischer Irrtum, Jesu Bereitschaft, unser Erlöser zu werden, so zu verstehen, man könne nun nachsichtig gegenüber der Sünde sein. Der Sohn Gottes wurde einer von uns, eben weil er keinerlei Toleranz gegenüber der trügerischen und zerstörerischen Macht der Sünde duldete. Stattdessen nahm er unsere Sünde auf sich und unterwarf sich Gottes Urteil, damit sie durch seinen eigenen Opfertod an unserer Stelle getilgt wurde.

Wenn wir uns in der gefallenen Welt, in der wir leben, umschauen und unser eigenes Leben betrachten, ist es offenkundig, dass Gott die Sünde zulässt, wo doch die Schrift deutlich macht, dass Gott die Sünde hasst. Warum tut er das? Wegen des Schadens, den sie uns zufügt. Sünde verletzt uns – sie schadet der Beziehung mit ihm und anderen Menschen und hält uns davon ab, in der Wahrheit und Fülle dessen zu leben, was wir sind, seine geliebten Söhne und Töchter. Im Umgang mit unseren Sünden in und durch Jesus nimmt Gott nicht sofort alle versklavenden Folgen der Sünde von uns weg. Das heißt jedoch nicht, dass uns seine Gnade erlaubt, weiter zu sündigen. Gottes Gnade ist nicht seine hinnehmende Toleranz gegenüber der Sünde.

Als Christen leben wir unter der Gnade – befreit von den unausweichlichen Strafen der Sünde, weil Jesus sich für uns geopfert hat. Als Mitarbeiter Christi lehren und predigen wir über die Gnade in einer Weise, die den Menschen Hoffnung und eine klare Vorstellung von Gott als ihren liebenden, vergebenden Vater vermittelt. Doch die Botschaft enthält auch eine Warnung – man erinnere sich an die Frage, die Paulus gestellt hat: „Betrachtest du seine große Güte, Nachsicht und Geduld als selbstverständlich? Begreifst du nicht, dass Gottes Güte dich zur Umkehr bringen will?“ (Röm 2,4). Und er fügte hinzu: „Welchen Schluss ziehen wir nun daraus? Sollen wir weiterhin sündigen, damit die Gnade zunimmt? Niemals! Wir sind doch, was die Sünde betrifft, gestorben. Wie können wir da noch länger in der Sünde leben?“ (Röm 6,1-2).

Die Wahrheit über Gottes Gnade darf nicht so verstanden werden als würde sie uns dazu ermutigen, in der Sünde zu bleiben. Gnade ist Gottes Vorsehung in Jesus, uns nicht nur von der Schuld und Scham der Sünde zu befreien, sondern ebenso von ihrer verfälschenden und versklavenden Macht. Wie Jesus sagte: „Jeder, der sündigt, ist ein Sklave der Sünde“ (Joh 8,34) so warnte auch Paulus: „Überlegt doch einmal: Wenn ihr euch jemand unterstellt und bereit seid, ihm zu gehorchen, seid ihr damit seine Sklaven; ihr seid die Sklaven dessen, dem ihr gehorcht. Entweder ihr seid Sklaven der Sünde zum Tod oder des Gehorsams zur Gerechtigkeit“ (Röm 6,16). Sündigen ist eine ernste Angelegenheit, denn sie liefert uns dem Einfluss des Bösen aus.

Das Verständnis über die Sünde und seiner Folgen dient nicht dazu, dass wir Menschen mit Worten der Verdammnis überhäufen. Stattdessen sollen unsere Worte sein, wie Paulus es beschrieb: „immer Gottes Gnade bezeugend und mit dem Salz der Weisheit gewürzt. Dann werdet ihr auch verstehen, jedem eine angemessene Antwort zu geben“ (Kol 4,6). Unsere Worte sollen Hoffnung vermitteln, indem sie sowohl von Gottes Vergebung der Sünden in Christus als auch seinem endgültigen Sieg über alles Böse berichten. Das eine ohne das andere wäre eine Verdrehung der Gnadenbotschaft. Wie Paulus schreibt, wird Gott uns in seiner Gnade nie der Sklaverei des Bösen überlassen: „Aber Dank sei Gott, dass die Zeit vorbei ist, in der ihr Sklaven der Sünde wart, und dass ihr jetzt aus innerster Überzeugung der Lehre gehorcht, die uns als Maßstab für unser Leben gegeben ist und auf die ihr verpflichtet worden seid“ (Röm 6,17).

Während wir im Verständnis über die Wahrheit von Gottes Gnade wachsen, verstehen wir mehr und mehr, warum Gott die Sünde verabscheut – sie verletzt und schadet seiner Schöpfung, sie zerstört echte Beziehungen mit anderen, sie verleumdet Gottes Wesen durch Lügen über ihn und sie untergräbt eine vertrauensvolle Beziehung mit Gott. Was also tun wir, wenn wir sehen, dass ein geliebter Mensch sündigt? Wir verurteilen ihn nicht, aber wir hassen das sündige Verhalten, das ihm (und vielleicht auch anderen) schadet. Wir hoffen und beten, dass unser geliebter Mitmensch von der Sünde befreit wird, und wenn wir dazu in der Lage sind, helfen wir ihm.

Paulus ist ein überzeugendes Beispiel dafür, was Gottes Gnade im Leben eines Menschen bewirken kann. Vor seiner Bekehrung hatte Paulus die Christen gewaltsam verfolgt. Er war dabei (hat vielleicht Steine geworfen), als Stephanus den Märtyrertod starb (Apg 7,54-8,1a). Weil er sich der ungeheuren Gnade zutiefst bewusst war, die er für die schrecklichen Sünden seiner Vergangenheit empfangen hatte, blieb Gnade stets ein Thema seines Lebens, in dem er seine Berufung im Dienste Jesu erfüllte:

Ich achte mein Leben nicht der Rede wert, wenn ich nur meinen Lauf vollende und das Amt ausrichte, das ich von dem Herrn Jesus empfangen habe, zu bezeugen das Evangelium von der Gnade Gottes (Apg 20,24).

In den Schriften des Paulus finden wir einen engen Zusammenhang von Gnade und Wahrheit in dem, was er durch die Inspiration des Heiligen Geistes lehrte. Wir sehen auch, dass Gott Paulus radikal von einem wutentbrannten Legalisten, der Christen verfolgte, zu einem demütigen Diener Jesu verwandelt hat, der sich seiner eigenen Sünde und der Barmherzigkeit Gottes voll bewusst war, da Gott ihn als sein Kind adoptiert hatte. Paulus hielt an der Gnade Gottes fest und widmete sich sein ganzes Leben lang der Verkündigung der Gnade, egal, was es kostete.

Dem Beispiel Paulus’ folgend sollten wir darauf achten, dass unsere Gespräche und Beratungen auf Gottes wunderbarer Gnade für alle Sünder und seiner entschiedenen Lehre beruhen, dass wir ein Leben abseits der Sünde führen sollen – ein Leben, zu dem uns Gottes Gnade befreit hat. Wir sind gefordert, „uns einander Tag für Tag zu ermahnen und zu ermutigen, damit niemand unter uns sich von der Sünde betrügen lässt und sich dadurch dem Wirken Gottes verschließt“ (Hebr 3,13). Wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die sich gegen das Evangelium stellen, sollten wir ihnen geduldig den rechten Weg zeigen, anstatt sie zu verurteilen, denn „vielleicht gibt Gott ihnen ja die Möglichkeit zur Umkehr, sodass sie die Wahrheit erkennen“ (2. Tim 2,25).

Möge uns Gott zu unserem Wohl in seiner Gnade und Wahrheit leiten.

[1] Alle Schriftstellen wurden aus der Neuen Genfer Übersetzung (NGÜ) übernommen.


© Stiftung WKG in Deutschland