Die Tugendleiter der christlichen Lebensweise

Von Neil Earle

Neujahrsvorsätze waren früher sehr beliebt – zumindest das Sich-Vornehmen, wenn auch nicht das Einhalten.

Der Apostel Petrus könnte mit dieser Praxis einverstanden gewesen sein. Jeder Versuch der Selbstoptimierung wäre ihm willkommen gewesen, denn der freimütige Apostel hat uns sieben „Ergänzungen zum Glauben“ hinterlassen. Sie stehen in seinem zweiten Brief (2. Petr). Petrus hatte in seinem Leben genug Fehler gemacht, die ihn erkennen ließen, dass es nach unserer Versöhnung mit dem Vater durch die Gnade Gottes tatsächlich Schritte gibt, die Christen unternehmen sollten, während sie als „Fremde und Ausländer“ in dieser unberechenbaren Welt leben.

Ein Aufruf zur christlichen Lebensweise
Der zweite Brief des Petrus ruft uns zu einer sehr praktischen christlichen Lebensweise auf – eine äußerst wichtige Aufgabe, die permanent besteht. In den Versen 5-7 des ersten Kapitels des 2. Petrusbriefes finden wir das, was Lehrerinnen und Lehrer „die Tugendleiter“ genannt haben. Es handelt sich dabei um einen Ansatz, ethisches Verhalten zu beschreiben, der im ersten Jahrhundert bei vielen sehr beliebt war. Für christliche Führer wie Petrus ist der Glaube das wichtigste Prinzip, wie er ausführt:

„Darum setzt alles daran, dass zu eurem Glauben Charakterfestigkeit hinzukommt und zur Charakterfestigkeit geistliche Erkenntnis, zur Erkenntnis Selbstbeherrschung, zur Selbstbeherrschung Standhaftigkeit, zur Standhaftigkeit Ehrfurcht vor Gott, zur Ehrfurcht vor Gott Liebe zu den Glaubensgeschwistern und darüber hinaus Liebe zu allen Menschen“ (2. Petr 1,5-7 NGÜ).

Und was nützt es, wenn man diese besonderen Tugenden anstrebt?

Petrus zählt sie in den Versen 8-11 auf:

  1. Sie bewahren uns davor, als Christen wirkungslos oder sogar nutzlos zu sein. Wir sind nicht länger Leute, die „alles nur vortäuschen und nichts tun“, die Schande über das Evangelium bringen.
  2. Sie bewahren uns davor, geistlich blind zu sein und zu denken, dass wir es „geschafft haben“ (Petrus nimmt hier kein Blatt vor den Mund).
  3. Sie erinnern uns daran, dass wir „Trophäen“ der Gnade Gottes sind, gereinigt von der Sünde, um als Lichter in einer dunklen Welt zu dienen.
  4. Sie bewahren uns davor, ins Verderben zu stürzen und dass wir „niemals zu Fall kommen“ so sein Ausdruck in Vers 10 (NGÜ A).

Diese acht Wesenszüge sind sogar noch aussagekräftiger, wenn wir uns die griechischen Wörter ansehen, die verwendet wurden, um diese Punkte zu verdeutlichen. Schauen wir sie uns genauer an.

Tugenden, die zum Glauben hinzukommen müssen
Das deutsche Wort Glaube wird vom griechischen Wort „pistis“ übersetzt und hat die grundlegende neutestamentliche Bedeutung, sich ganz auf Gottes Verheißungen verlassen zu können, wie es der Patriarch Abraham (Röm 4,20-21) tat. Wenn wir nicht an das Erlösungswerk glauben, das Gott in Christus getan hat, haben wir keine Grundlage für das christliche Leben (Apg 16,31). Der alttestamentliche Patriarch Abraham wird im Neuen Testament der Vater der Gläubigen genannt. In Hebräer 11,8 lesen wir, dass Abraham aus Chaldäer, dem heutigen Irak nach Kanaan, dem heutigen Israel, aufbrach, „obwohl er nicht wusste, wohin er kommen würde“. Alles, was er hatte, waren die Verheißungen Gottes, denen er von Herzen vertraute und entsprechend handelte.

Es geht uns ähnlich wie Abraham, jedes Jahr aufs Neue. Es ist eine unsichere und zerbrechliche Welt, in der wir leben. Wir wissen nicht, ob die Dinge gut oder noch schlimmer werden. Das ist ein Grund, warum wir das Vertrauen brauchen, den Glauben, dass Gott uns und unsere Familien durchbringen wird. Der Glaube ist der Beweis, der unserem Verstand und unserem Herzen zur Verfügung steht, die gottgegebene Zuversicht, dass Gott uns durchbringen wird und dass alles zu unserem Besten dienen wird (Röm 8,28).

Darin sind sich alle Autoren des Neuen Testaments einig: „pistis (der Glaube)“ steht am Anfang des christlichen Lebens. Aber es ist noch mehr nötig.

Charakterfestigkeit
Hier kommt das griechische Wort „arete“ ins Spiel. In der Neuen Genfer Übersetzung (NGÜ) wird es mit „Charakterfestigkeit“ übersetzt und kann auch als „vorbildliches Verhalten“ wiedergegeben werden, was in der Tat eine breite Anwendung findet. Der Griechisch-Experte William Barclay erklärt uns, dass „arete“ das Wort war, das die Griechen für die Götter verwendeten. Es hatte die Bedeutung von Vortrefflichkeit , Exzellenz, Mut, etwas, das über das Durchschnittliche und Alltägliche hinausgeht. Sokrates bewies „arete“, als er den Schierlingsbecher nahm, um nicht von seinen Prinzipien abzuweichen. Jesus bewies „arete“, als er entschlossen seine letzte Reise nach Jerusalem antrat, obwohl er wusste, dass ihm dort ein grausamer Tod bevorstand (Luk 9,51).

Vorbildliches Verhalten bedeutet, nicht nur zu reden, sondern auch zu handeln. Das hilft Christen auch, zwischen falschen und echten Vorbildern zu unterscheiden.

Es gibt heute viele Blender oder sogar schönredende Betrüger, die sich zum Christentum bekennen (einige haben ihre eigenen Fernsehshows), aber „arete“ richtet das Licht der Wahrheit Gottes auf sie. Paulus bewies großen Mut und Charakterstärke, als er seine feste Absicht verkündete, Jerusalem zu besuchen, obwohl der Heilige Geist ihm deutlich gezeigt hatte, dass Gefahr drohte (Apg 20,22-24; 21,10-11). Diese Art von Hingabe, die in arete verwurzelt ist, stärkte und ermutigte die frühe Kirche. Arete hat sie durch die grausamen Verfolgungen der nächsten Jahrhunderte gebracht – wie sonst können wir heute eine christliche Kirche haben?

Zur arete gehören gute Werke und Taten des Dienens, die wir überall in der frühen Kirche finden (1. Tim 5,10). Auch hier waren sich die Jünger Petrus und Jakobus einig. Jakobus be-tonte, dass „der Glaube ohne Werke nutzlos ist“ (Jak 2,20).

„Know-how“ und Selbstbeherrschung
Als Nächstes kommt „Erkenntnis“. Der Heilige Geist inspirierte Petrus dazu, ein anderes Wort für „Erkenntnis“ zu verwenden, als es im Neuen Testament üblich ist. „Sophia“ ist das übliche griechische Wort für Weisheit und vermittelt die Fähigkeit, weitreichende Entscheidungen auf der Grundlage von Beweisen oder manchmal auch nur wenigen Beweisen zu treffen. In 2. Petrus 1,5 heißt es jedoch „ gnosis “, was sich eher auf das „Know-how“ bezieht, also darauf, wie man mit einer schwierigen Situation und den vielen alltäglichen Entscheidungen umgeht, vor denen wir stehen. Paulus bewies mehr als einmal „Know-how“ inmitten eines Sturms auf dem Meer (Apg 27,9, 21-44). Paulus zeigte auch „gnosis“, als er vor dem jüdischen Hohepriester die Beherrschung verlor, aber die Situation zu seinem Vorteil nutzte: Sobald er seinen Fehler erkannte, machte er eine Kehrtwende und zog sich mit einer schnellen Entschuldigung und einem Textzitat aus der Patsche (Apg 23,1-9). Das war ein gutes Beispiel für Know-how, für Mut, für „Köpfchen“ und dafür, wie man sich schnell in einer misslichen Situation befreien kann.

Wie oft wünschten wir, wir hätten diese Fähigkeit, wenn wir dem Bankangestellten, dem Beamten, dem Vorgesetzten oder dem falschen Ankläger gegenüberstehen. Das Richtige zu sagen, und zwar im richtigen Maß – das ist etwas, bei dem wir unseren himmlischen Vater um Hilfe bitten dürfen, und er ist mehr als bereit, das zu tun (Jak 1,5).

Selbstbeherrschung folgt auf Erkenntnis. Das griechische Wort ist „egkrateia“. Es bedeutet, dass die Vernunft immer vor der Leidenschaft oder dem Gefühl kommen muss. Jesus zeigte „egkrateia“ in jener schrecklichen Nacht im Garten Gethsemane, als sein menschliches Ich ihn drängte, dem Schrecken der Kreuzigung zu entkommen. Durch ein überragendes Beispiel der Selbstbeherrschung meisterte Jesus seine Furcht mit vollkommener göttlicher Selbstdisziplin und stellte sich erneut mutig dem, was auf ihn zukam. Das ist die Art von Selbstbeherrschung, die uns versprochen wird, eine Wesensart, die von Gott selbst kommt und uns auch im Angesicht des Todes Halt gibt.

Standhaftigkeit und Frömmigkeit
Es folgt Standhaftigkeit, wie es die NGÜ in 2. Petrus 1,6 nennt. Der bereits erwähnte Griechisch-Experte Barclay behauptet, dass das in englischen Bibeln verwendete Wort „patience“ (Geduld) oder sogar „perseverance“ (Durchhalten) zu passiv ist, um die volle Bedeutung des griechischen Wortes „hupomone“, das als Nächstes kommt, wiederzugeben. Hupomone ist Geduld, aber es ist eine Geduld, die auf ein gewünschtes und realistisches Ziel ausgerichtet ist. Sie ist nicht einfach nur Abwarten, sie ist Ausharren mit Erwartung und mit verbissener Entschlossenheit. Die Griechen bezeichneten damit eine Pflanze, die auch unter harten und widrigen Umständen gedeihen kann. Im Hebräerbrief 12,2 wird „hupomone“ (erdulden) mit einer festen Standhaftigkeit in Verbindung gebracht, die in Erwartung des Sieges auch unter schwierigen Bedingungen durchhält und gedeiht. Es bedeutet zum Beispiel, geduldig auf Heilung zu warten, wenn wir krank sind, oder auf den positiven Ausgang einer Bitte an Gott warten.

Die Psalmen sind voll von diesem Aufruf zur Standhaftigkeit. „Ich warte auf den HERRN, meine Seele wartet und ich vertraue auf sein Wort“, heißt es in zahlreichen Psalmen (z.B. Ps 130,5). Begleitet werden solche Bitten von einem festen Vertrauen auf Gottes liebende Macht, um gegen alles gewappnet zu sein, was das Leben von uns abverlangt.

Mit „hupomone“ (Standhaftigkeit) sind eine Lebendigkeit und ein Optimismus verbunden, die einfach nicht aufgeben wollen. Diese Entschlossenheit ist sogar stärker als unsere Angst vor dem Tod.

Als Nächstes kommt „eusebeia“ oder „Frömmigkeit“. Dieses Wort, das heute nicht mehr gebräuchlich ist, ist farbenfroh und kraftvoll, da es darauf hinweist, dass das Volk Gottes von einem Gefühl der Berufung und des Engagements durchdrungen ist. Es bringt uns dazu, immer nach dem besten Weg zu streben, anstatt das zu tun, was von Natur aus kommt. Menschen bei der Arbeit – ein Chef, ein Partner, ein Kollege – können unsere Geduld auf die Probe stellen und uns sogar manchmal ungerecht behandeln oder uns geistig aus dem Konzept bringen. Aber wenn wir uns der Frömmigkeit (liebevollen Ehrfurcht vor Gott) verpflichtet fühlen, werden wir auf christliche Weise reagieren.

Die Worte von Paulus strahlen „eusebeia“ aus. „Vergeltet niemand Böses mit Bösem … Wenn es möglich ist und soweit es an euch liegt, lebt mit allen Menschen in Frieden. Rächt euch nicht selbst, liebe Freunde, sondern überlasst die Rache dem Zorn Gottes. Denn es heißt in der Schrift: ‚Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr‘“ (Röm 12,17-19).

Jeder muss zugeben, dass dies eine der schwierigsten Schriftstellen ist, die man in der gesamten christlichen Erfahrung befolgen muss. Aber Paulus belässt es nicht dabei. Er führt uns auf eine höhere Ebene, eine göttliche Ebene, wenn er Sprüche 25,21 zitiert: „Wenn dein Feind hungrig ist, gib ihm zu essen; wenn er durstig ist, gib ihm zu trinken ... Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (Röm 12,20-21).

Das ist eine hohe Berufung, die Gott uns gegeben hat! Aber würde Frömmigkeit nicht die Dinge in der Vorstandsetage, im Kabinett oder im Wohnzimmer verändern? Natürlich würde sie das. Ehrfurcht vor Gott tut das immer.

„Brüderliche Zuneigung“ und Liebe
„Zuneigung“ ist das bekannte Wort „philadelphia“ – die Fähigkeit, alle Menschen als Brüder [bzw. Schwestern] zu lieben. Das ist ein wunderbares Ziel für jedes neue Jahr. Leider missbrauchen wir die Zuneigung allzu oft, indem wir sie nur Menschen entgegenbringen, die so sind wie wir. Das ist gefährlich, denn es kann zu Cliquenbildung, Klüngelei, Spaltung und Parteilichkeit kommen, was wir heute in den Nachrichten sehen. Cliquen sind schlecht, weil sie sich nach innen wenden und oft ihre eigene innere Dynamik entwickeln und eine harte Schale hinterlassen, die sich gegen andere wendet. In seinem berühmten Werk People of the Lie (Menschen unter der Lüge) hat der Psychologe Scott Peck gezeigt, dass einige der größten Übel von Menschen in Gruppen begangen werden, z. B. von Soldaten in der Schlacht, die sich allein und verraten fühlen und glauben, dass sie einander treu sein müssen, egal, wer verletzt wird. So kommt es oft zu Gräueltaten im Krieg. Das ist ein falsch verstandener „Korpsgeist“, ein hässlicher Charakterzug.

Die göttliche Liebe jedoch, das griechische „agape“, ist gegen diese Verzerrung immun. Agape atmet den Geist „echten Wohlwollens für alle Menschen“ (1. Kor 9,22). Barclay nennt die Liebe die charakteristische Tugend des christlichen Glaubens. „Diese Agape, diese christliche Liebe, ist nicht nur eine emotionale Erfahrung... sie ist ein bewusstes Prinzip des Verstandes und eine bewusste Errungenschaft und Leistung des Willens. Sie ist in der Tat die Kraft, die Unliebsamen zu lieben, Menschen zu lieben, die wir nicht mögen ... Die christliche Liebe muss sich [sogar] auf den Feind erstrecken“ (New Testament Words, S. 20-21) .

Damit ist die Liebe die Krone aller Tugenden. Dorthin hat uns die Tugendleiter von Petrus geführt. Die Liebe ist uns immer voraus, sie fordert uns auf, uns anzustrengen, uns selbst im Zaum zu halten, uns in den Wirren des Lebens immer wieder auf unsere eigenen besten Instinkte und Einstellungen zu besinnen und jene Haltungen zu pflegen, die in der Wärme von Gottes kostbarem Heiligen Geist gebadet wurden.

Ja, Agape hoch zu schätzen, im Sinne der Tugendleiter immer auch auf das Wohl des Anderen bedacht zu sein, kann uns mental gesund und sicher durchs Leben führen, was immer die Zukunft bringen mag.


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