Das Geschenk unserer Zeit nutzen

Von Dr. Joseph Tkach

Rosch Haschana („Kopf des Jahres“) ist der Name des jüdischen Neujahrsfestes, das im Herbst (Mitte September/Anfang Oktober) gefeiert wird. Es hat vielfache Bedeutungen. Es erinnert an die Erschaffung von Adam und Eva. Nach jüdischer Überlieferung glich der Ton, den Gott in Adam „blies“, dem Blasen des trompetenartigen Schofars, das im alten Israel dieses Fest ankündigte (3. Mose 23,23-24). Rosch Haschana gilt auch als der Jahrestag der Erschaffung des Universums, was bedeutet, dass es an den Beginn der Zeit erinnert.

Während des Lesens über das Thema Zeit fiel mir wieder ein, dass Zeit auch mehrere Bedeutungen hat. Eine davon ist, dass Zeit ein Vermögenswert ist, über den Milliardäre und Bettler gleichermaßen verfügen. Wir alle haben 24 Stunden am Tag. Da wir sie aber nicht speichern können, stellt sich die Frage: Wie nutzen wir die Zeit, die uns zur Verfügung steht?

Der Wert der Zeit
Paulus war sich des Wertes von Zeit bewusst und ermahnte die Christen, „die Zeit auszukaufen“ (Eph 5,16). Bevor wir uns die Bedeutung dieses Verses genauer ansehen, möchte ich ein Gedicht mit Ihnen teilen, das den großen Wert der Zeit beschreibt:


Den Wert der Zeit erfahren
(Autor unbekannt)
Um den Wert eines Jahres zu erfahren, frage einen Studenten,
der im Schlussexamen durchgefallen ist.
Um den Wert eines Monats zu erfahren, frage eine Mutter,
die ein Kind zu früh zur Welt gebracht hat.
Um den Wert einer Woche zu erfahren, frage den Herausgeber einer Wochenzeitung.
Um den Wert einer Stunde zu erfahren, frage die Liebenden, die darauf warten, sich zu sehen.
Um den Wert einer Minute zu erfahren, frage jemanden,
der seinen Zug, seinen Bus oder seinen Flug verpasst hat.
Um den Wert einer Sekunde zu erfahren, frage jemanden, der einen Unfall überlebt hat.
Um den Wert einer Millisekunde zu erfahren, frage jemanden,
der bei den Olympischen Spielen eine Silbermedaille gewonnen hat.
Die Zeit wartet auf niemanden.
Sammle jeden Moment der Dir bleibt, denn er ist wertvoll.
Teile ihn mit einem besonderen Menschen, und er wird noch wertvoller.

Wie wird die Zeit ausgekauft?

Dieses Gedicht bringt es in Bezug auf die Zeit auf einen Punkt, den Paulus ganz ähnlich in Epheser 5 aufzeigt. Im Neuen Testament gibt es zwei Wörter, die aus dem Griechischen mit auskaufen übersetzt werden. Das eine ist agorazo, das sich auf das Kaufen von Dingen auf einem normalen Marktplatz (agora) bezieht. Das andere ist exagorazo, was sich auf das Kaufen von Dingen abseits davon bezieht. Paulus verwendet das Wort exagorazo in Epheser 5,15-16 und ermahnt uns: „Achtet sorgfältig darauf, wie ihr lebt; handelt nicht unklug, sondern bemüht euch, weise zu sein. Nutzt jede Gelegenheit, in dieser üblen Zeit Gutes zu tun“ [Neues Leben, SMC, 2011]. In der Luther-Übersetzung von 1912 heißt es „kaufet die Zeit aus.“ Es scheint so, als wolle Paulus uns drängen, die Zeit außerhalb des normalen Marktgeschehens auszukaufen.

Das Wort auskaufen ist uns nicht sehr geläufig. Im Geschäftsleben wird es als „leer kaufen“ oder im Sinne von „abfinden“ verstanden. Wenn eine Person ihre Schulden nicht bezahlen konnte, so konnte sie die Vereinbarung treffen, sich als Diener der Person zu verdingen, der sie etwas schuldete, bis die Schulden abgezahlt waren. Ihr Dienst konnte auch vorzeitig beendet werden, wenn jemand an ihrer Stelle die Schulden bezahlte. Wenn ein Schuldner auf diese Weise aus dem Dienst herausgekauft wurde, bezeichnete man diesen Vorgang als „auslösen oder loskaufen“. (Hierbei denken wir auch daran, dass Jesus uns erlöst hat, doch das ist ein anderes Thema).

Wertgegenstände können auch ausgelöst werden – wie wir es heute von Pfandhäusern kennen. Einerseits sagt Paulus uns, Zeit zu nutzen bzw. auszukaufen. Andererseits sehen wir anhand des Kontextes der Anweisung des Paulus, dass wir Nachfolger Jesu sein sollen. Paulus sagt uns damit, es so zu verstehen, dass wir uns auf den Einen konzentrieren sollen, der die Zeit für uns ausgekauft hat. Sein Argument ist, keine Zeit für andere Dinge zu verschwenden, die uns davon abhalten, uns auf Jesus zu konzentrieren und das Werk, zu dem er uns eingeladen hat, daran mitzuwirken.

Nachfolgend der Kommentar zu Epheser 5,16 aus Band 1 der „Wuest’s Word Studies in the Greek New Testament“:
„Auskaufen“ kommt vom griechischen Wort exagorazo (ἐξαγοραζω), und bedeutet „auskaufen“. Im mittleren Teil, der hier verwendet wird, bedeutet es „für sich selbst auskaufen oder zum eigenen Vorteil.“ Bildlich gesprochen, bedeutet es „nutze jede Gelegenheit zum weisen und heiligen Gebrauch, Gutes zu tun“, so dass Eifer und Gutes-tun als Zahlungsmittel gelten, durch die wir die Zeit erwerben“ (Thayer). „Zeit“ ist nicht chronos (χρονος), also „Zeit als solches“, sondern kairos (καιρος), „die Zeit, die als strategischer, epochaler, rechtzeitiger und günstiger Zeitabschnitt“ zu betrachten ist. Man solle nicht bestrebt sein, die Zeit als solches möglichst gut zu nutzen, sondern Nutzen aus den Gelegenheiten zu ziehen, die sich uns bieten.

Da man Zeit normalerweise nicht als eine Ware betrachten kann, die man buchstäblich auskaufen könnte, verstehen wir die Aussage des Paulus metaphorisch, die im Wesentlichen besagt, dass wir die Situation, in der wir uns befinden, so gut wie möglich nutzen sollten. Wenn wir das tun, wird unsere Zeit mehr Sinn und größere Bedeutung haben und sich auch „auszahlen“.

Zeit ist ein Geschenk Gottes
Als Teil der Schöpfung Gottes ist Zeit ein Geschenk für uns. Einige haben mehr davon und einige weniger. Aufgrund medizinischer Fortschritte, guter genetischer Anlagen und Gottes Segen, werden viele von uns über 90 und einige sogar über 100 Jahre alt werden. Kürzlich hörten wir von einem Mann in Indonesien, der im Alter von 146 Jahren gestorben sei! Es spielt keine Rolle, wieviel Zeit Gott uns gibt, denn Jesus ist der Herr der Zeit. Durch die Menschwerdung, kam der ewige Sohn Gottes aus der Ewigkeit in die Zeit. Daher erlebt Jesus geschaffene Zeit anders, als es bei uns der Fall ist. Unsere geschaffene Zeit ist begrenzt in ihrer Dauer, während Gottes Zeit, außerhalb der Schöpfung unbegrenzt ist. Gottes Zeit ist nicht in Abschnitte aufgeteilt, wie bei uns, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gottes Zeit hat auch eine völlig andere Qualität – eine Art von Zeit, die wir nicht völlig verstehen können. Was wir tun können (und sollten), ist, in unserer Zeit zu leben, in der sicheren Zuversicht, dass wir unseren Schöpfer und Erlöser in seiner Zeit, der Ewigkeit, begegnen werden.

Zeit nicht falsch verwenden oder verschwenden
Wenn wir metaphorische von der Zeit sprechen und Dinge sagen, wie „verschwende keine Zeit“, so meinen wir in gewisser Weise, dass wir den korrekten Gebrauch unserer kostbaren Zeit verlieren könnten. Das geschieht, wenn wir jemandem oder einer Sache erlauben, unsere Zeit für Dinge in Anspruch zu nehmen, die keinen Wert für uns haben. Das ist bildlich ausgedrückt, der Sinn dessen, was Paulus uns sagen will: „Kaufet die Zeit aus“. Er ermahnt uns jetzt, unsere Zeit nicht auf eine Weise falsch zu verwenden oder zu verschwenden, die dazu führt, dass wir darin versagen, einen Beitrag zu dem zu leisten, was für Gott als auch für uns Christen wertvoll ist.

In diesem Zusammenhang, da es um das „Auskaufen der Zeit“ geht, müssen wir uns daran erinnern, dass unsere Zeit zuerst durch Gottes Vergebung durch seinen Sohn ausgekauft und wiedererlangt wurde. Sodann kaufen wir weiterhin die Zeit aus, indem wir unsere Zeit richtig nutzen, um zu einer wachsenden Beziehung mit Gott und untereinander beizutragen. Dieses Auskaufen der Zeit ist Gottes Geschenk an uns. Wenn Paulus uns in Epheser 5,15 ermahnt, „sorgfältig darauf zu sehen, wie wir unser Leben führen, nicht als Unweise, sondern als Weise“, so weist er uns an, die Gelegenheiten zu nutzen, die uns die Zeit bietet, um Gott zu ehren.

Unser Auftrag „zwischen den Zeiten“
Gott hat uns die Zeit gegeben, um in seinem Licht zu wandeln, am Dienst des Heiligen Geistes mit Jesus daran teilzuhaben, die Mission voranzubringen. Um dies zu tun, ist uns die „Zeit zwischen den Zeiten“ von Christi erstem und zweitem Kommen gegeben. Unsere Mission in dieser Zeit besteht darin, anderen Menschen bei der Suche und in der Erkenntnis Gottes behilflich zu sein und ihnen zu helfen, ein Leben im Glauben und in der Liebe zu führen, sowie in der sicheren Zuversicht, dass Gott am Ende die gesamte Schöpfung voll ausgekauft hat, was auch die Zeit einschließt.

Ich bete darum, dass wir in unserer Kirche die Zeit auskaufen, die Gott uns gegeben hat, indem wir treu das Evangelium der Versöhnung Gottes in Christus leben und verkünden.


© Stiftung WKG in Deutschland