Das Gebet macht viel aus

Von Dr. Joseph Tkach

Ich nehme an, dass Sie auch schon Zeiten der Verzweiflung erlebt haben, in denen Sie Gott um sein Eingreifen angefleht haben. Vielleicht haben Sie um ein Wunder gebetet, jedoch offensichtlich vergebens; das Wunder blieb aus. Ebenso nehme ich an, dass Sie sehr erfreut waren, als Sie erfuhren, dass die Gebete um die Heilung einer Person erhört wurden. Ich kenne eine Dame, bei der nach Gebeten um ihre Heilung eine Rippe nachgewachsen ist. Der Arzt hatte ihr geraten: „Was immer Sie tun, machen Sie weiter!“ Viele von uns, da bin ich mir sicher, sind getröstet und ermutigt, weil wir wissen, dass andere für uns beten. Ich bin immer ermutigt, wenn Menschen mir sagen, dass sie für mich beten. Als Antwort sage ich meistens: „Vielen Dank, ich brauche wirklich alle Ihre Gebete!“

Eine fehlgeleitete Denkweise
Unsere Erfahrungen mit Gebeten mögen positiv oder negativ ausgefallen sein (wahrscheinlich beides). Deshalb sollten wir nicht vergessen, was Karl Barth (Schweizer Theologe, 1886-1968) beobachtet hat: „Das entscheidende Element unserer Gebete sind nicht unsere Bitten, sondern Gottes Antwort“ (Prayer [dt. Gebet], S. 66). Man kann Gottes Reaktion leicht missverstehen, wenn er nicht in der erwarteten Weise geantwortet hat. Schnell ist man bereit zu glauben, das Gebet sei ein mechanischer Prozess – man könne Gott als einen kosmischen Verkaufsautomaten benutzen, in den man seine Wünsche einwirft und das gewünschte „Produkt“ kann entnommen werden. Diese fehlgeleitete Denkweise, die schon einer Form der Bestechung nahekommt, schleicht sich oft in Gebete hinein, bei denen es darum geht, die Kontrolle über eine Situation zu erlangen, der wir machtlos gegenüberstehen.

Der Zwecke des Gebetes
Das Gebet dient nicht dazu, Gott dazu zu bewegen, Dinge zu tun, die er nicht tun möchte, sondern dazu, sich seinem Tun anzuschließen. Es dient auch nicht dazu, Gott steuern zu wollen, sondern anzuerkennen, dass er alles steuert. Barth erklärt dies so: „Mit dem Falten unserer Hände zum Gebet beginnt unser Aufstand gegen das Unrecht in dieser Welt.“ Durch diese Aussage bekannte er, dass wir, die wir nicht von dieser Welt sind, uns im Gebet in Gottes Mission für die Welt einbringen. Statt uns aus der Welt herauszunehmen (mit all ihrer Ungerechtigkeit), vereint uns das Gebet mit Gott und seiner Mission zur Errettung der Welt. Weil Gott die Welt liebt, sandte er seinen Sohn in die Welt. Wenn wir uns mit Herz und Verstand im Gebet dem Willen Gottes öffnen, dann werfen wir unser Vertrauen auf den Einen, der die Welt und uns liebt. Er ist der Eine, der das Ende schon seit Anbeginn kennt und der uns helfen kann zu erkennen, dass dieses gegenwärtige, endliche Leben der Anfang und nicht das Ende ist. Diese Art des Gebets hilft uns zu sehen, dass diese Welt nicht so ist, wie Gott sie möchte, und es verändert uns, damit wir hier und jetzt Hoffnungsträger in Gottes gegenwärtigem, sich ausbreitendem Reich sein können.

Wenn das Gegenteil von dem eintritt, was sie erbeten haben, stürzen sich manche Menschen auf die deistische Ansicht vom distanzierten und unbeteiligten Gott. Andere wollen dann mit dem Glauben an Gott überhaupt nichts mehr zu tun haben. So erlebte es Michael Shermer, Gründer der Skeptic’s Society (dt: Verein der Skeptiker). Er verlor seinen Glauben, als seine College-Freundin bei einem Autounfall schwer verletzt wurde. Ihr Rückgrat war gebrochen und durch die Lähmung hüftabwärts ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Michael hatte geglaubt, Gott hätte die Gebete um ihre Heilung erhören müssen, weil sie ein wirklich guter Mensch sei.

Gott ist souverän
Das Gebet ist kein Mittel, Gott lenken zu wollen, sondern die demütige Anerkennung, dass ihm alles untersteht, uns jedoch nicht. In seinem Buch God in the Dock (dt.: Gott auf der Anklagebank) erklärt C. S. Lewis dies folgendermaßen:

Die meisten Ereignisse, die im Universum stattfinden, können wir nicht beeinflussen, einige jedoch schon. Es ist ähnlich wie in einem Theaterstück, bei dem der Schauplatz und die generelle Handlung der Geschichte vom Autor vorgegeben sind; es bleibt jedoch ein gewisser Spielraum, in dem die Akteure improvisieren müssen. Es mag sonderbar anmuten, warum er uns überhaupt erlaubt, reale Ereignisse auszulösen und noch erstaunlicher erscheint es, dass er uns dafür das Gebet anstelle irgendeiner anderen Methode gab. Der christliche Philosoph Blaise Pascal sagte, Gott habe „das Gebet eingeführt, um seinen Geschöpfen die Würde, Änderungen beisteuern zu können, zu gewähren“. Es würde vielleicht mehr den Tatsachen entsprechen, wenn wir sagen, dass Gott zu diesem Zweck sowohl das Gebet als auch physische Handlungen bedachte. Er gab uns kleinen Geschöpfen die Würde, am Geschehen von Ereignissen in zweifacher Hinsicht mitwirken zu können. Er schuf die Materie des Universums so, dass wir sie in bestimmten Grenzen benutzen können; so können wir uns die Hände waschen und sie dazu einsetzen, unseren Mitmenschen Nahrung zu geben oder sie zu töten. Auf ähnliche Weise berücksichtigte Gott in seinem Plan oder Geschichtsablauf, dass dieser einen gewissen Spielraum zulässt und als Reaktion auf unsere Gebete noch modifiziert werden kann. Es ist dumm und ungehörig, um den Sieg in einem Krieg zu bitten (wenn man erwartet, dass er weiß, was das Beste ist); das wäre ebenso dumm und ungehörig, um schönes Wetter zu bitten und sich einen Regenmantel anzuziehen – weiß denn Gott nicht am besten, ob wir trocken oder nass werden sollen?

Wozu noch beten?
Lewis verweist darauf, dass Gott möchte, dass wir durch das Gebet mit ihm Zwiesprache halten und erklärt in seinem Buch Miracles (dt.: Wunder), Gott habe bereits die Antworten auf unsere Gebete vorbereitet. Da stellt sich die Frage: Wozu noch beten? Lewis antwortet:

Wenn wir das Ergebnis, sagen wir eines Streites oder einer medizinischen Beratung, im Gebet vorbringen, dann kommt uns oft in den Sinn (wenn wir es doch bloß wüssten), dass ein Ereignis schon so oder so entschieden ist. Ich halte das nicht für ein gutes Argument, das Beten einzustellen. Das Ereignis ist sicherlich entschieden – in dem Sinne, dass es schon „vor aller Zeit und Welt“ entschieden wurde. Jedoch eine Sache, die bei der Entscheidung berücksichtigt wird und die Sache wirklich zu einem bestimmten Ereignis macht, mag gerade das Gebet sein, das wir jetzt vorbringen.

Haben Sie das alles verstanden? Gott könnte bei seiner Antwort auf Ihr Gebet berücksichtigt haben, dass Sie beten werden. Die Schlussfolgerungen hieraus regen zum Nachdenken an und sind aufregend. Es zeigt sich umso mehr, dass unsere Gebete wichtig sind; sie haben Bedeutung. Lewis schreibt weiter:

So schockierend es klingt, ich schließe daraus, dass wir am Nachmittag ein Beteiligter an einer Ursachenkette eines Ereignisse werden können, das bereits um 10.00 Uhr stattfand (Einige Wissenschaftler finden es einfacher so zu beschreiben, als es allgemeinverständlich auszudrücken). Sich das vorzustellen, wird ohne Zweifel, uns jetzt so vorkommen, als wolle man uns austricksen. Ich frage nun: „Also, wenn ich das Gebet beendet habe, kann Gott zurückgehen und ändern, was bereits geschehen ist?“ Nein. Das Ereignis ist bereits geschehen, und eine der Ursachen dafür ist die Tatsache, dass Sie solche Fragen stellen, anstatt gebetet zu haben. Also hängt es auch von meiner Wahl ab. Mein freies Tun trägt zur Form des Kosmos bei. Diese Mitwirkung wurde in der Ewigkeit oder „vor allen Zeiten und Welten“ angelegt, aber mein Bewusstsein darüber erreicht mich erst zu einem bestimmten Punkt in der Zeitabfolge.

Das Gebet bewirkt etwas
Was Lewis sagen will, ist, dass das Gebet etwas bewirkt; das tat es schon immer und wird es immer tun. Warum? Weil Gebete uns die Gelegenheit geben, uns in Gottes Handeln einzubringen, mit dem was er tat, jetzt tut und tun wird. Wir können nicht verstehen, wie das alles zusammenhängt und zusammenwirkt: Wissenschaft, Gott, Gebet, Physik, Zeit und Raum, Dinge wie die Quanten-Verschränkung und Quanten-Mechanik, aber wir wissen, dass Gott alles bestimmt hat. Außerdem wissen wir, dass er uns einlädt, bei dem mitzuwirken, was er tut. Das Gebet macht viel aus.

Wenn ich bete, dann denke ich, es ist das Beste, meine Gebete in Gottes Hand zu legen, weil ich weiß, dass er sie richtig einschätzt und in seine guten Vorhaben in geeigneter Weise einfügt. Ich glaube, Gott wendet alle Dinge für seine herrlichen Vorhaben zum Guten (das schließt unsere Gebete ein). Ich bin mir auch bewusst, unsere Gebete werden von Jesus, unserem Hohepriester und Fürsprecher unterstützt. Er nimmt unsere Gebete auf, heiligt sie und tauscht sich darüber mit dem Vater und dem Heiligen Geist aus. Aus diesem Grunde gehe ich davon aus, unbeantwortete Gebete gibt es nicht. Unsere Gebete verbinden sich mit dem Willen, Zweck und der Mission des dreieinigen Gottes – vieles davon wurde vor Grundlegung der Welt festgelegt.

Wenn ich nicht genau erklären kann, warum Gebete so wichtig sind, dann vertraue ich auf Gott, dass es so ist. Deshalb bin ich ermutigt, wenn ich erfahre, dass meine Mitmenschen für mich beten und so hoffe ich, sind auch Sie ermutigt, weil Sie wissen, dass ich für Sie bete. Ich tue es nicht, um zu versuchen, Gott zu lenken, sondern um den Einen zu preisen, der alles lenkt.

Ich danke und lobe Gott, dass er der Herr über alles ist und dass ihm unsere Gebete wichtig sind.


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