Zorn und Wut tun nicht gut
Das Geräusch splitternden Glases durchbrach die Stille der Nacht. Unmittelbar darauf waren grauenvolle Schreie zu vernehmen: „Gordon, hilf mir! Hilf mir!“ Ich stürzte aus dem Haus, rannte auf das Nachbargrundstück zu, sprang über den Zaun und fand den unter Schock stehenden Hilfesuchenden, der seinen blutüberströmten Arm im Schoß barg. Seine Frau war völlig aufgelöst und die traumatisierten Kinder starrten nur hinter einem Sofa hervor. Dave und seine Frau waren im Streit aneinandergeraten und er hatte in einem Wutanfall mit seiner Faust das Wohnzimmerfenster eingeschlagen. Eilends umwickelte ich seinen Arm mit einem Handtuch und brachte Dave ins nächstgelegene Krankenhaus. Noch dreißig Jahre später sind die Narben als unübersehbare Spuren jener furchtbaren Nacht und Zeugen der zerstörerischen Kraft des ungezügelten Zorns und seiner Folgen zu sehen.
Haben Sie in jüngster Vergangenheit einmal die Beherrschung verloren? Haben Sie Ihre Kinder wie vom Wahn getrieben angeschrien oder sie sogar im Zorn geschlagen? Sind Sie so jemand, der die Servicekraft an der Kasse sofort heftig anfährt, wenn sie einen Fehler macht? Hupen Sie andauernd ohne Not zur Hauptverkehrszeit? Sorgen Sie mit Ihrer leicht zu entfachenden Reizbarkeit oft für dicke Luft?
Wut – die verwerflichen Auswüchse des Zorns – ist eine heftige Gefühlsregung, die in unserem Leben viel Unheil anrichten kann. Sie kann eine Ehe zerstören, eine berufliche Karriere zunichtemachen, eine Familie spalten, ja über die Zeit sogar unsere Gesundheit ruinieren (Spr 29,22). König Salomo verglich die schonungslose, zerstörerische Kraft des Zorns mit überschäumendem Wasser (Spr 27,4; Gute Nachricht Bibel).
Der Psychiater Richard Walters schrieb dazu: „Heutzutage sind Menschen schon umgebracht worden, weil jemand außer sich vor Zorn war. Andere sterben an körperlichem Leiden, das Folge ihrer Wutgefühle ist oder dadurch verschlimmert wird. Viele Menschen kommen durch Autounfälle ums Leben, die Folge ungezügelten Zorns sind. [...] Zahllose Beziehungen gehen nach und nach an Verbitterung zugrunde, die Liebe und Vertrauen zerfrisst. Wut birgt eine zerstörerische Kraft in sich und ihre Folgen können uns krank machen.“
Warum werden wir überhaupt wütend? Warum machen uns die nichtigsten Kleinigkeiten böse und erhalten ein Gewicht, das in keinem Verhältnis zum Geschehenen steht? Warum machen uns Menschen, die wir lieben und die uns wichtig sind, wütend? Wie sollten wir damit umgehen? Zorn mag zuweilen irrational erscheinen, aber wenn Sie lernen, ihn zu durchschauen, werden Sie seine wahren Auslöser erkennen. Häufig steckt dahinter eine kontinuierlich weiter entfachte Glut von Frustrationen, ungeklärten Kränkungen und Ängsten. Stellen Sie sich, wenn Sie wütend sind, folgende Fragen: Worum geht es hier wirklich? Bin ich eifersüchtig oder neidisch? Habe ich überzogene Erwartungen? Bin ich verbittert? Bin ich in meinem Stolz verletzt? Diese und andere Faktoren können Wut und Zorn auslösen. In einem kurzen Artikel wie diesem lassen sich all die angesprochenen Punkte und Lösungsansätze nicht abhandeln, aber einige grundlegende Fakten, die unser Leben maßgeblich beeinflussen, wenn sie verinnerlicht und angewandt werden, sollten wir schon kennen.
Vor vielen Jahren sah ich einen Cartoon, der mich die Ursache negativer Gefühle besser verstehen ließ. Ich erinnere mich nicht mehr an jedes Detail, aber die vier dick gedruckten Worte habe ich nie wieder vergessen: ich – mich – mir - mein.
In dem Cartoon bildeten diese vier Worte ein riesiges Denkmal und jeder Buchstabe stand in Granit gemeißelt da. An seinem Sockel befanden sich Hunderte von Menschen mit empor gestreckten Armen, als ob sie dem Denkmal huldigten. Am Rande des Bildes stand Folgendes: „Du bist die Nummer eins.“
„Du hast Deine Rechte.“
„Mach Dein Ding!“
„Du hast es verdient, glücklich zu sein.“
Im Leben dreht sich alles um mich. „Du hast es gewagt, mich zu verletzen, also werde ich auch Dir wehtun.“ „Ich mache, was ich will.“ „Ich bin äußerst sensibel, also kritisiere mich nicht.“ „Du stehst mir im Wege.“ „Du stehst im Rampenlicht, aber da gehöre ich hin.“
In den Sprüchen Salomos begegnen uns zwei Typen von Menschen – der Narr und der Weise. Der Narr ist vom Intellekt her nicht dumm, aber er sieht sich stets im Mittelpunkt – deshalb muss alles zu seinem Gefallen sein. Er verkündet lauthals, was ihn erbost. Er wirkt zerstörerisch und macht alles schlecht (Spr 18,6), Rat nimmt er nicht an (Spr 12,15). Wann immer er gereizt oder verärgert ist, wird er wütend, weil er ein Sklave seiner inneren Regungen ist (Spr 29,11). Im tiefsten Grunde seines Herzens ist der Narr jemand, der sich unabhängig von Gott fühlt. Er glaubt nicht an die Aussage Jesu: „ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5).
Der Narr spricht:
Mein Nachbar Dave verlor zu Hause oft die Beherrschung. Auf die Frage, ob er jemals vor seinem Chef vor Wut die Fassung verloren habe, antwortete er: „Nie, ansonsten wäre ich meinen Arbeitsplatz losgewesen.“ Es ist nun aber so, dass wir unsere Wut zügeln können, wenn wir es wirklich wollen. Es liegt an uns. Salomo lehrt uns: „Ein Tor schüttet all seinen Unmut aus, aber ein Weiser beschwichtigt ihn zuletzt“ (Spr 29,11). Er sagt nicht, der Weise sei nie zornig oder aufbrausend. Aber er hat sich unter Kontrolle. (Dabei hat es sich als probat erwiesen zu lernen, einmal tief durchzuatmen und sich einige Sekunden Zeit zu lassen, bevor man reagiert.)
Gary Smalley hat mehr als vierzig Bücher zum Thema Beziehungen und Ehe selbst geschrieben oder daran mitgewirkt. Er sagt: „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der Liebestöter Nummer eins in jeder Beziehung nicht aufgearbeiteter Zorn ist.“ Seiner Auffassung nach können Ehepaare lernen angemessen mit Wut umzugehen und ihrer Ehe eine neue Richtung geben, indem sie Vergebung zu ihrem Lebensstil machen. Unterdrücken Sie Ihren Zorn nicht einfach. Tun Sie nicht so, als sei er gar nicht vorhanden. Er ist wie ein Splitter in Ihrem Finger. Wenn Sie ihn lassen, wo er ist, wird er sich entzünden und jedes Mal wehtun, wenn Sie etwas mit Ihrem Finger berühren. Entfernen Sie ihn, so wird die Wunde heilen und Sie werden sich besser fühlen.
Zorn an sich ist nicht von Übel. Gott war so erbost angesichts der Sünde und liebte gleichzeitig den Sünder so sehr, dass daraus das Kreuz Jesu erwuchs. Gottgefälliger Zorn wirkt positiv und konstruktiv gegen alles Unrecht (Mt 18,15-17). Gerechter Zorn veranlasste Männer und Frauen, etwas gegen die Sklaverei zu unternehmen. Florence Nightingales Empörung angesichts der mangelnden Hygiene und der entsetzlichen Versorgungsnot, denen sich verwundete Soldaten ausgesetzt sahen, revolutionierte die Krankenpflege. Beim gottgefälligen Zorn geht es um Problemlösungen. Beim frevelhaften Zorn geht es nur um mich.
Im christlichen Leben geht es nicht darum, was ich will. Ich stehe nicht im Mittelpunkt, sondern Jesus. Wir wurden als auf Gott angewiesene Menschen erschaffen. Und der Allmächtige sagt nicht, dass wir unser Bestes versuchen müssen, um Zorn zu bezwingen – er sagt vielmehr, dass er unser neues Leben ist. Überantworten Sie ihm Ihren Zorn. Bringen Sie alles, was Sie schmerzt, kränkt bzw. jemandem verübeln, vor Gott. Wenn wir von ihm nicht die Kraft bekommen, unserer Wut Herr zu werden, von wem dann? ❏