Die Verklärung Jesu

– ein flüchtiger Eindruck verheißener Herrlichkeit

Von Dr. Michael Morrison

Eine Betrachtung des Markusevangeliums 9,1-10
Die Jünger sind entmutigt – ja geradezu bestürzt. Sie hatten gemeint, einem Messias in sein prächtiges Himmelreich zu folgen. Dann aber hatte Jesus ihnen klargemacht, dass er seinem Tod entgegenginge. Was war aus der von ihnen erhofften Herrlichkeit geworden, dem Reich, das Jesus ihnen doch verheißen hatte? In dieser Situation musste der Herr bei seinen Jüngern Hoffnung wecken, was deren Zukunft anbelangte, und so setzt sich die Geschichte wie folgt fort:

Das Reich Gottes in Macht und Herrlichkeit (Verse 1 bis 4)
Jesus sprach zu seinen Jüngern: „Wahrlich, ich sage euch: Es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie sehen das Reich Gottes kommen mit Kraft“ (V. 1). Jesus versichert ihnen, dass die Herrlichkeit des himmlischen Reiches tatsächlich verwirklicht werde – und dies noch vor ihrem Tod!

Die Jünger waren bereits der vom Reich Gottes ausgehenden Macht gewahr geworden. Wann immer Jesus die bösen Geister ausgetrieben und die Kranken geheilt hatte, war die Kraft des himmlischen Reiches am Werk gewesen (Mt 12,28). Die Jünger hatten die Macht von Gottes Reich am Pfingsttag erlebt (Apg 2,1-4). Sie war ihnen in Gestalt von Wundern und in der Verbreitung des Evangeliums bis hin nach Rom begegnet.

Jesus bezieht sich an dieser Stelle jedoch auf etwas anderes. Seine Verheißung findet sich im Matthäus-, Markus- und im Lukasevangelium, und jeder ihrer Darstellungen folgt sogleich die Verklärung Christi, bei der dreien seiner Jünger das Privileg zuteilwird, Jesus in besonderer Verherrlichung zu sehen. In allen drei Evangelien wird uns berichtet, seine Verklärung habe sich etwa eine Woche nach ihrer Ankündigung ereignet – die Verheißung und ihre Erfüllung werden durch diesen literarischen Kunstgriff miteinander verbunden.

„Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus, Jakobus und Johannes und führte sie auf einen hohen Berg, nur sie allein“ (V. 2). Der Überlieferung nach geschah dies auf dem Berg Tabor; der ist jedoch nur etwa 600 Meter hoch. Der Berg Hermon mag da schon eher infrage gekommen sein; denn er ist mit etwa 2800 Metern die höchste Erhebung in diesem Gebiet, und Caesarea Philippi liegt an seinem Fuße.

Petrus, Jakobus und Johannes waren die Jesus am nächsten stehenden Jünger. Sie scheinen zudem auch die ambitioniertesten gewesen zu sein – Petrus war der Freimütigste unter ihnen, und Jakobus sowie auch Johannes erbaten sich Ehrenplätze in seiner Herrlichkeit (Mk 10,37). Gerade diese drei Jünger mochten am meisten jener Zusicherung Jesu bedurft haben, der Verfolgung werde etwas Besseres folgen.

„Und er wurde vor ihnen verklärt; und seine Kleider wurden hell und sehr weiß, wie sie kein Bleicher auf Erden so weiß machen kann. Und es erschien ihnen Elia mit Mose, und sie redeten mit Jesus“ (V. 3-4).

Waren Elia und Mose auferstanden, oder handelte es sich lediglich um eine „Erscheinung“? Im Matthäusevangelium 17,2 heißt es, Jesu Angesicht „leuchtete wie die Sonne“. War es eine Vision oder hatte sich Jesus tatsächlich gewandelt? Wir wissen es nicht. Und warum Mose und Elia? Darauf lässt sich leichter eine Antwort geben: Die Juden schätzten beide in hohem Maße, und zugleich waren sie – für das Alte Testament und die Propheten stehend – herausragende Persönlichkeiten in der Geschichte der Israeliten.

Worüber sprachen sie? Im Lukasevangelium 9,31 steht, sie hätten „von seinem Ende, das er in Jerusalem erfüllen sollte“, gesprochen. Sie redeten also von seinem Tod. Wussten Elia und Mose, auf welche Weise und warum er sterben sollte, oder baten sie Jesus, es ihnen zu erklären? Offensichtlich ist dies für uns nicht so sehr von Belang.

Hört auf Jesus! (Verse 5 bis 8)
Wären wir seinerzeit zugegen gewesen, hätten wir wahrscheinlich nicht besser als Petrus verstanden, was sich dort zutrug. „Und Petrus fing an und sprach zu Jesus: Rabbi, hier ist für uns gut sein. Wir wollen drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine. Er wusste aber nicht, was er redete; denn sie waren ganz verstört“ (V. 5-6).

Eine Woche zuvor hatte Petrus gesagt, Jesus sei der Messias. An dieser Stelle aber verwendet er den weniger bedeutenden Titel „Rabbi“. Welche Anrede ist die treffendste? Schon wenig später erhalten wir darauf eine verbindliche Antwort.

Warum sprach Petrus von Hütten? Warum sollte jemand im Zustand der Verherrlichung einer Hütte bedürfen? Vielleicht dachte Petrus in diesem Zusammenhang an das Laubhüttenfest, das viele Juden mit dem Kommen des Reiches verbanden. Vielleicht aber standen die Hütten symbolisch für eine an die Propheten gerichtete Aufforderung, noch eine Weile dort zu bleiben.

Etwas noch Erstaunlicheres ereignete sich kurz darauf: „Und es kam eine Wolke, die überschattete sie. Und eine Stimme geschah aus der Wolke: Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören!“ (V. 7) . Die Wolke befand sich nicht nur über ihnen –, sie „überschattete sie“, umfing sie wie dichter Nebel und nahm ihnen die Sicht.

Und Gott verkündet uns die wichtige Botschaft: Jesus ist sein geliebter Sohn, der seine Worte offenbart. Selbst in Anwesenheit der bedeutendsten Propheten der Geschichte Israels sollen die Jünger auf ihn hören. Er steht sogar noch über Mose und Elia und deshalb über dem alttestamentlichen Gesetz und den Propheten. Und wenn er sagt, er werde ihr Messias sein und als solcher in Jerusalem den Tod erleiden, so sollten sie seinen Worten Beachtung schenken.

„Und auf einmal, als sie um sich blickten, sahen sie niemand mehr bei sich als Jesus allein“ (V. 8). Petrus hatte gehofft, jenem Moment noch Dauer verleihen zu können, aber er war vorüber. Das Ereignis war nicht dazu ausersehen, sie mit den Propheten aus der Vergangenheit in Berührung zu bringen, sondern um sie noch hingebungsvoller ihrem Herrn folgen zu lassen; denn er war mehr als ein Prophet – er war der Sohn Gottes, und Gott hatte gerade den Weg, auf dem Jesus sich befand, als den richtigen bestätigt.

Die Herrlichkeit, mit der sie Jesus umgeben sahen, befeuerte sie zweifellos in ihrem Glauben, das Reich Gottes werde in aller Pracht Wirklichkeit werden. Aber dies sollte nicht erst in Zu-kunft wahr werden. Jesus war von jeher der geliebte Sohn Gottes gewesen, und seine Jünger sollten seine Lehren annehmen, auch wenn diese ihren Erwartungen und Wünschen so gar nicht entsprachen. Da er der geliebte Sohn Gottes war, konnten die Jünger sicher sein, dass auch dann, wenn ihnen in unmittelbarer Zukunft dunkle Tage bevorstanden, dieses die Herrlichkeit folgen werde.

Die Verklärung Christi macht zudem deutlich, dass Gottes Reich über die Reiche der Menschen hinausweist. Seine Herrschaft stellt nicht allein die der Menschen in den Schatten, und die Führung seines Reiches ist nicht nur gütiger und mächtiger als die der römischen bzw. jüdischen Könige – das verklärte Antlitz Jesu und das Strahlen seiner Kleider offenbaren, dass sie sich grundlegend von jeglicher menschlicher Herrschaft unterscheidet. Sie stellt eben nicht nur eine Fortsetzung der normalen Geschichte dar.

Schon als die Jünger auch nur einen Hauch dieser Herrlichkeit verspürten, waren sie so verängstigt, dass sie kein vernünftiges Wort mehr herausbrachten. Und dabei hatte sich ihnen die Wirklichkeit von Gottes Reich erst ansatzweise erschlossen.

Was sollten die Jünger also tun? Sie sollen auf Jesus hören, sich hinter ihn stellen und ihm nachfolgen. Sie sollen die Dinge nicht selbst in die Hand nehmen, weil ihre Bemühungen so vergebens sind wie das Errichten von Hütten für verherrlichte Wesen.

Unverständnis der Jünger (Verse 9-10)
„Sie hätten dabei sein müssen“, heißt es. Aber in diesem Fall hätte das wenig genützt. „Als sie aber vom Berg hinabgingen, gebot ihnen Jesus, dass sie niemandem sagen sollten, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn auferstünde von den Toten. Und sie behielten das Wort und befragten sich untereinander. Was ist das, auferstehen von den Toten?“ (V. 9-10).

Jesus hatte seinen eigenen Tod und seine Auferstehung vorhergesagt, die Wahrheit seiner Worte stand jedoch in einem so krassen Gegensatz zu den Erwartungen der Jünger, dass diese sie trotz deren eindeutiger Schlichtheit nicht verstanden. Erst nach Jesu Auferstehung von den Toten sollten sie sie langsam begreifen – bis dahin aber würden sie die Geschichte nicht richtig wiedergeben können. Deshalb wies der Herr sie an, seine Worte bis zum rechten Zeitpunkt für sich zu behalten.

Die Verklärung Christi gab ihnen einen flüchtigen Eindruck von der Herrlichkeit Jesu, jener Herrlichkeit, die er mit all jenen zu teilen verheißen hat, die sein Kreuz auf sich nehmen und ihm durchs finstere Tal folgen.


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