Die beste Geschichte, die je erzählt wurde
Von Neil Earle

David A. Redding (amerikanischer Autor und Pastor, 1923-2013) schrieb: „Wenn unsere Raumschiffe ihren Platz im Regal neben der Dampfmaschine und der Pferdekutsche einnehmen, wenn eines Tages die letzte Sonne untergeht, wird diese Geschichte noch immer so bedeutsam sein wie an jenem Tag, als sie zum ersten Mal erzählt wurde“ (The Parables He Told [Die Gleichnisse, die Jesus erzählte], Seite 15).

In diesem Artikel geht es um ein Gleichnis, das von vielen Hörern und Lesern für die beste Geschichte aller Zeiten gehalten wird: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn. In der englischen Bibel ist vom „verschwenderischen“ Sohn die Rede, da es in dem Gleichnis um einen törichten jungen Sohn geht, der sein Erbe verschwenderisch verprasste. Wie im Deutschen sollte man es besser das ‚Gleichnis vom verlorenen Sohn‘ oder das ‚Gleichnis vom liebenden Vater‘ nennen. Das Gleichnis steht im 15. Kapitel des Lukasevangeliums, in dem es drei Mal um Verlorenes geht – ein verlorenes Schaf, eine verlorene Münze, einen verlorenen Sohn.

Der Auslöser für diese große Trilogie ist die kritische Frage der Widersacher Jesu: „Warum isst er mit den Sündern?“ (Lk 15,2).

Die Antwort lautet: Weil Jesus sich viel Zeit für Sünder nimmt.

Das Reich Gottes ist...
Als Jesus in die Welt des ersten Jahrhunderts kam und die Botschaft vom Reich Gottes verkündete, hatten die Menschen, denen er begegnete, ihre eigenen Vorstellungen davon, was dieses Reich bedeutet.

  • Für einige Juden bedeutete es, die verhassten Römer ins Meer zu werfen.
  • Für andere ging es darum, die Familie Herodes loszuwerden. Es gab eine Gruppe von Attentätern, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Terroranschläge gegen die Machthaber in Judäa zu verüben. Man nannte sie die Zeloten. Einer der Jünger Jesu wurde Simon der Zelot genannt.
  • Die religiöse Elite, die Kapitel und Verse zitieren konnte, träumte gern von der Wiederherstellung der glorreichen Tage Davids und Salomos, von der Zeit, in der Ägypten geplagt wird, weil es die Feste nicht einhält, von der Zeit, in der zehn Männer einen Juden am Rock packen und sagen: Zeig uns Gott; von der Zeit, in der die Nationen nach Jerusalem strömen werden, um den wahren Gottesdienst zu feiern (Jes 2,1-4; Sach 14). Für einen jüdischen Nationalisten war das nicht ungefährlich.
Aber Jesus sprach von einem anderen Reich, einem Reich, in dem die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten wären; in dem die Frauen genauso gut wie die Männer und manchmal sogar besser wären; in dem die Armen und die gesellschaftlich Ausgestoßenen feiern würden; in dem reiche Männer in der Hölle leiden, während hungernde Menschen in Abrahams Schoß aufgenommen werden; in dem der größte Herrscher der größte Diener wäre. Dies wäre ein Königreich, das sicher alles auf den Kopf stellen würde.

Um dies zu verdeutlichen und seine Botschaft gegen Kritiker zu verteidigen, erzählte Jesus seine wunderbaren Geschichten, die viel darüber aussagten, wie Gott wirklich ist, was sein Reich ausmacht und was er erwartet. Die Geschichten durchbrachen das oberflächliche Drumherum der Theologie, um zum Kern des Ganzen zu gelangen.

Das ist echte Reue...
Das Gleichnis beginnt mit dem bekannten Satz: „Ein Mensch hatte zwei Söhne...“ Lk 15,11).

Viele Einzelheiten entgehen uns, weil sie uns zu vertraut sind. Man beachte, dass beide Söhne aufgrund ihrer Bitte ihr Erbe früher als üblich erhielten (Lk 15,12). Den Rest kennen wir: Der Jüngere vergeudet impulsiv und töricht seinen Lebensunterhalt mit Huren und falschen Freunden. Er sinkt so tief, dass er Schweine hüten muss – ein Gräuel für die streng religiösen Juden in Jesu Zuhörerschaft (Vers 15). Schließlich kommt er zur Vernunft. „Ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich einem deiner Tagelöhner gleich!“ (Lk 15,17b-19) .

Das war echte Reue, daran besteht kein Zweifel. Aber wir kleingeistigen Detailversessenen („Gott vergibt nur, wenn man bereut!“) sollten uns etwas merken. Echte Reue ist ein Geschenk Gottes. Sie ist nicht etwas, das wir aus eigener Kraft erlangen können. Sie ist eine Gnade, die durch die Güte Gottes gewährt wird (Röm 2,4), der uns geliebt hat, als wir noch Sünder waren (Röm 5,8). Selbst der Akt der Reue, durch den wir zu Gott zurückkehren, wird also durch das liebevolle Wirken des Heiligen Geistes angeregt und in Gang gesetzt, der sanft gegen unsere Dickschädel schlägt. Man nennt es „vorauswirkende Gnade“, wenn Sie den Fachausdruck dafür wissen wollen.

Der jüngere Sohn kehrt also heim. Wieder wissen wir, was passiert, die ganze Welt weiß, was passiert. Der Vater läuft ihm entgegen, und der Sohn hält seine aufrichtige kleine Rede – außer ... außer, dass der Vater ihn nicht sagen lässt: Lass mich einer deiner bezahlten Diener sein. Nein. Nein. NEIN! Ganz und gar nicht. In Gottes Reich führt echte Reue zur Wiederherstellung. In der Gesellschaft jener Zeit bedeuteten der Ring, das Gewand und die Sandalen, dass man in einen hohen Stand aufstieg, so wie es Joseph erlebte, als er aus dem Gefängnis gerufen wurde (1. Mose 41,42). Es herrscht Fröhlichkeit und Festlichkeit.

Ende gut, alles gut, ja?

Nun... hier zeigt sich die Brillanz Jesu als der beste aller Lehrer und Geschichtenerzähler.

Der ältere Bruder kommt vom Feld nach Hause. Er hört den Klang der Musik. Er ist wütend. „Du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre“ , schimpft er auf seinen Vater. Dann beschwert er sich in den Augen Jesu mit den Worten: „Ich habe dein Gebot nie übertreten“ (Lk 15,29) . Die Lektion hier ist, dass Gehorsam einen guten Bürger unter menschlicher Regierung ausmacht, aber im Reich von oben zählt er vielleicht nicht so viel, wie wir es gerne hätten. Gott achtet auf das Herz – auf einen Gehorsam, der von Herzen kommt, nicht auf eine lieblose Leistung.

Ein guter böser Mann
Für viele Ausleger ist die Reaktion des älteren Bruders die eigentliche Botschaft des Gleichnisses. Der anerkannte Gleichnisexperte Joachim Jeremias schrieb, dass „das Gleichnis an Menschen gerichtet war, die wie der ältere Bruder waren, Menschen, die sich über das Evangelium ärgerten“ (The Parables of Jesus [Die Gleichnisse Jesu], Seite 131). Ihnen hat Jesus durch seine Worte und Taten gezeigt: Die Stunde ist gekommen. Das Reich Gottes ist nahe. Der große Umschwung ist da. „Seht“, sagt Jesus zu seinen verärgerten Kritikern, „wie groß die Liebe Gottes zu den Sündern ist. Die Ernte wird eingebracht. Die geistlich Toten erwachen zu neuem Leben. Die Verlorenen kommen nach Hause, und Gott – ja, Gott feiert ein großes Fest. Freut euch mit mir!“

Das ist nicht die Reaktion der Gegner Jesu. Ihnen ist darüber nicht zum Jubeln zumute. Sie sind wie der ältere Bruder, den Mark Twain einen „guten Mann im schlimmsten Sinne des Wortes“ nannte. Der Autor David A. Redding fügt hinzu, dass man, wenn man die Haltung des älteren Bruders sieht, vielleicht versteht, warum der jüngere Sohn das Haus verlassen hat! Das sind alles gute Argumente. Dies ist eines der zweischneidigen Gleichnisse Jesu, eines, bei dem die überraschende Wendung am Ende kommt, wie bei den Arbeitern, die den ganzen Tag arbeiteten und nur den gleichen Lohn bekamen wie diejenigen, die noch kurz vor Feierabend eingestellt wurden. Es fällt schwer, so etwas zu begreifen.

Wenn Sie ein Legalist sind, ist es schwer, diesem Gott zu vertrauen. Man kann sich nie darauf verlassen, dass dieser Richter ernsthaft eine Verurteilung anstrebt. Dieser Gott ist außerordentlich barmherzig. Der Psalmist sagte, seine liebevolle Güte sei besser als das Leben (Ps 63,4).

Es ist also nicht falsch, sich an der offensichtlichen Bedeutung der Geschichte zu erfreuen – an Gottes überbordender Liebe zu den Sündern, ob reuig oder nicht. Was für eine Geschichte. Was für ein Evangelium. Was für ein Geschichtenerzähler. Was für ein Erlöser! Erinnern Sie jeden, der Zweifel hat, wie Gott wirklich ist, daran, die Geschichte vom verlorenen Sohn noch einmal zu lesen. Diese Lektion sollte niemand verpassen. Gott ist den Sündern gegenüber definitiv wohlwollend eingestellt. Wenden Sie sich an ihn und Sie werden es selbst erfahren. ❏


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