Das Evangelium in alle Welt tragen
Von Dr. Randal Dick
„Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“ (Mt 28,19), sprach Jesus zu der kleinen Gruppe, die ihm gefolgt war. Dieser Satz sollte später als „Missionsbefehl“ bezeichnet werden: Seither sind Christen über alle Jahrhunderte hinweg bemüht, den „großen Auftrag“ zu erfüllen.
Wir in der westlichen Welt von heute machen da keine Ausnahme – nur sind wir nicht sehr erfolgreich. Das Christentum in Europa ist ins Wanken geraten, obgleich alljährlich Millionen Dollar, Pfund und Euro für die Verkündigung des Evangeliums ausgegeben werden. Könnte es sein, dass wir etwas falsch machen?
Das Christentum in der westlichen Welt tendiert zur Paradigmenbindung. Paradigmen stellen Wertvorstellungen und Anschauungen über unser Tun und Lassen dar. Sie sind nur schwer zu verändern, weil wir sie kaum je hinterfragen. Jeder „weiß“ doch, dass eine bestimmte Handlungs- oder Denkungsweise die richtige ist! Paradigmen wird somit ein Wahrheitsstatus beigemessen – auch dann, wenn sie von Grund auf unzutreffend sind. Andere Paradigmen mögen zunächst angemessen gewesen sein, doch sobald sich Situationen ändern, kann selbst ein hilfreiches Paradigma seine Gültigkeit verlieren und Schaden anrichten.
Meines Erachtens binden wir uns an unangemessene Paradigmen; sie gilt es zu verändern, wenn wir effektive „Haushalter“ des Evangeliums sein wollen.
Die erste Anweisung, die Jesus seinen Jüngern gab, lautete: „Folgt mir nach“ (Mt 4,19). Jesus wollte, dass ihn die Jünger ihr Leben lang auf seinem Weg begleiteten. Eine solche Wegbegleitung ist ein dynamischer Prozess – und die Frühkirche war gewiss dynamisch. Sie breitete sich
aus wie Hefesporen, durchdrang in zunehmendem Maß die unterschiedlichsten geographischen Bereiche, überschritt ethnische und kulturelle Grenzen. Die Kirche ließ sich durch keine
ökonomische Schicht eindämmen und überwand alle gesellschaftlichen Barrieren. Doch nach einigen Jahrhunderten begann sich die Kirche als Zentrum von Gesellschaft, Staat und Kultur zu etablieren. Im Zuge dieser Entwicklung büßte sie ihre anfängliche Dynamik ein – sie geriet zu einer statischen Institution: Alle Menschen und Dinge hatten sich um dieses Zentrum zu drehen.
Nun mag diese Entwicklung als Fortschritt gewertet worden sein, aber sie erwies sich nicht als reiner Segen. Hier nämlich nahm das im Westen derzeit vorherrschende christliche, statische Paradigma seinen Anfang. Jahrhunderte lang blieb die Kirche die einflussreichste Institution in Europa – aber gerade ihr Erfolg machte sie verletzlich. Mit der Entstehung der modernen industriellen Zivilisation lehnten Staat und Gesellschaft den dominanten Einfluss der Kirche zunehmend ab. Die Kirche sah sich gezwungen, diesen neuen Status zu akzeptieren, hat aber nicht zu ihrer ursprünglichen dynamischen Missionsrolle zurückgefunden. Stattdessen ließ sie sich auf den Konkurrenzkampf mit weltlichen Institutionen um einen Platz im Leben des Menschen ein, was dazu führte, dass sie sich in einem zweiten unangemessenen Paradigma verfing.
Je länger sich die zunehmend entrechtete Kirche an der scheinbaren Sicherheit ihrer statischen Paradigmen festklammerte, desto mehr sah sie sich veranlasst, Ungläubige für sich zu gewinnen. So gut wie jedes evangelistische Programm und Bemühen ist darauf ausgerichtet, gezielt Mitglieder für die statische Kirche zu werben oder aber der Kirche zu mehr Beachtung und Attraktivität in der Gemeinschaft zu verhelfen. Dieses „Attraktivitätsparadigma“ ist wichtig für eine statisch verstandene Kirche, die gleichwohl wachsen soll. Ihr Erfolg hängt somit nicht nur vom Grad ihrer Effektivität ab, sondern auch von der Rezeptivität ihres Adressatenkreises.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich dieser Adressatenkreis als immer weniger aufnahmebereit erwiesen; der organisierten Gläubigkeit wird zunehmend Widerstand entgegengebracht. Deshalb führt das fortgesetzte Bemühen um Attraktivität vielfach lediglich zur „Aufmischung der Schäflein Gottes“ – ohnedies Gottgläubige werden der einen Kirchengemeinschaft entzogen und einer anderen zugeführt. Wie die Statistik zeigt, hat sich die Rate der Konvertierung Ungläubiger dadurch nicht signifikant erhöht.
Das statische Paradigma wie auch das Attraktionsparadigma haben uns veranlasst, ein weiteres schädliches Paradigma zu übernehmen: das Vermarktungsparadigma.
Der „Evangelisierung“ als der Verkündigung des Evangeliums haben wir einen hohen Stellenwert eingeräumt. Der Terminus scheint sich jeder präzisen Definition zu widersetzen und ist zu verschiedenen Zeiten der Kirchengeschichte unterschiedlich interpretiert worden – je nach vorherrschender „Nachrichten“-Technik. So nimmt es nicht Wunder, dass sich die Kirche heutzutage kommerzieller Marketing- und Werbetechniken bedient, um die Botschaft des Evangeliums in der modernen Welt zu verkünden.
Wir haben buchstäblich Tausende kreativer Programme produziert, die vermitteln sollen, wie wir gemeinschaftlich unseren Glauben bekennen, das Reich Gottes herbeiführen, Mitmenschen zu Christus hinführen, Zeugnis ablegen und den Missionsbefehl zu erfüllen haben. Wir schalten Werbeanzeigen, wir produzieren Funk- und Fernsehsendungen, wir bieten Suchdienste an, wir führen evangelisierende Kreuzzüge, wir veranstalten Werbekampagnen in der Nachbarschaft, wir errichten attraktive Gebäude mit einem Maximum an Annehmlichkeiten wie Kinderbetreuung und faszinierenden audiovisuellen Effekten.
All dies ist Marketing – der Versuch, potenzielle „Kunden“ für unser Produkt zu gewinnen oder unser Produkt (die statische Kirche) attraktiver für sie zu gestalten. Wir sind aufrichtig bemüht, dass Ungläubige zu Christus und damit zum (statischen) Leib Christi finden.
Daran ist an sich nichts auszusetzen, aber ein solches Vorgehen kann auch zum Schaden gereichen. Problematisch ist nämlich, dass wir immer mehr Aufwand für immer weniger Erfolg treiben. So mögen wir uns für unsere jüngste „Werbekampagne“ begeistern, verlieren aber zuweilen den eigentlichen Sinn und Zweck unseres Tuns aus den Augen. Unser Aktivismus gerät zum Selbstzweck, wobei eine Zurückweisung, mit der selbst bei bestem Marketing bis zu einem gewissen Grad zu rechnen ist, persönlich aufgefasst wird. Kein Wunder, dass sich so viele Leute, die das Evangelium in bester Absicht „an den Mann bringen“ wollen, schließlich entmutigt und ausgebrannt fühlen.
Was also ist zu tun? Einige kluge Köpfe unserer Christenheit fordern uns eindringlich auf, zu einem dynamischen Modus zurückzukehren, anstatt uns zwecks Erfüllung des Missionsbefehls mit unserem bequemen, statischen Attraktions- und Marketingansatz zu begnügen.
Einer der meiststrapazierten Slogans im Marketingparadigma lautet: „Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen!“ Wir verstehen diesen Satz gern als Aufforderung, wir sollten uns mit Begeisterung ins Meer der Ungläubigkeit begeben und Gott um seinen Segen für unsere Mühen bitten, immer erfolgreichere „Menschenfischer“ zu werden. Aber Jesus hat nicht gesagt: „Geht hinaus und betätigt euch als Menschenfischer.“ Er hat gesagt: Folgt mir nach.“ Nur so will er uns zu Menschenfischern machen.
Sehen Sie den Unterschied? „Führe uns“ – eine solche Bitte impliziert, dass wir das Ziel kennen, aber doch ein wenig Hilfe brauchen, um möglichst effektiv und effizient dorthin zu gelangen. „Folgt mir nach“ – die Aufforderung besagt, dass wir das Ziel nicht kennen, aber dorthin gelangen, wenn wir uns der Führung Jesu anvertrauen. „Folgen“ mag sich vergleichsweise passiv anhören, aber in Wirklichkeit bedeutet es genau das Gegenteil vom statischen Paradigma – und führt uns diametral weg vom Marketingparadigma. Die ersten Christen waren dynamisch. Sie hatten keinen Status zu wahren und besaßen keine großartigen Institutionen oder Einrichtungen außer ihren eigenen Häusern. Sie erwarteten die baldige Rückkehr Jesu und verstanden sich als „Haushalter im Übergang“. Derweil aber lebten sie ihr normales Leben und hoben sich in keiner Weise von ihrer kulturellen Umgebung ab – mit der einen Ausnahme, dass der Heilige Geist Gottes in ihnen wirkte und sie von Grund auf veränderte.
Die Kirche war in gewisser Weise eins mit ihrer Gemeinde. Man redete über das Evangelium und trug es weiter. Die Freude über den Lebensweg mit Christus war so übermächtig, dass sie sich der unmittelbaren Umgebung von selbst mitteilte. Man brauchte nicht zu „evangelisieren“!
Abgesehen von der Entsagung jeglicher Götzenverehrung unterschied sich die Kultur der Kirche in nichts von ihrem durch jüdische, griechische oder römische Kultur geprägten Umfeld. Die Nachfolger Christi pflegten nach Jesu Vorbild enge Beziehungen zu ihren Freunden und Verwandten. Es war der im Alltag dieser Christen lebendige Christus, der ihre Attraktion ausmachte.
Wir neigen zur Romantisierung der Frühkirche und machen uns somit ein falsches Bild von der Situation. In seinem Buch The Rise of Christianity (Harper Collins, 1996) , stellt Rodney Stark viele gemeinhin akzeptierte Vorstellungen zum Geschehen in den ersten Jahrhunderten der Christenheit in Frage. Er hat die Ausbreitung der Kirche verfolgt – von der ersten 120-köpfigen Gemeinde bis hin zu einer Gläubigenzahl um 300 n. Chr., die nach konservativen Schätzungen zwischen fünf und 7,5 Millionen Christen gelegen haben muss.
Stark wertet seine Daten eher als Soziologe denn als Theologe und spricht von einer Ausbreitung der Frühkirche mit einer Wachstumsrate von rund 40 Prozent pro Jahrzehnt beziehungsweise vier Prozent im Jahr. Dabei resultierte dieses Wachstum nicht unbedingt aus einer Abfolge von Wundern, Zeichen und anderen erstaunlichen Ereignissen. Es kam dadurch zustande, dass sich ganz gewöhnliche Menschen in ihrem normalen Alltag umeinander kümmerten.
Mit anderen Worten: Die Frühkirche breitete sich aus, weil enge Freunde und Verwandte der neu bekehrten Christen miterlebten, wie sich im Leben der Gläubigen, die sich zur Nachfolge Christi entschlossen hatten, eine Wandlung vollzog. Ein formal organisiertes Programm gab es nicht. Die Betroffenen sahen nicht einmal einen besonderen Wert in ihrem Tun. Doch ihr Verhalten im Alltag trug dazu bei, das Römische Reich mit Jesus Christus zu konfrontieren
Nirgends zeigte sich diese Wandlung deutlicher als im Leben der Frauen.
Indem die ersten Hauskirchen-Gläubigen dem Vorbild Jesu in ihren Gemeinden nacheiferten, nahm eine ganz kleine Bewegung ihren Anfang, die sehr bald schon zu wachsen begann. Als unmittelbares Resultat ihres täglichen „Lebenswandels im Gehorsam“ zog die Frühkirche besonders die Frauen in ihren Bann.
Wie Stark bemerkt, erwies sich die Rate der Bekehrung heidnischer Frauen zum Christentum als derart problematisch für die Heiden, dass Kaiser Valentinian dem damaligen Papst Damasus I die schriftliche Weisung erteilte, christlichen Missionaren den Besuch heidnischer Frauen in deren Häusern zu untersagen.
Um ermessen zu können, wieso der schlichte Tagesablauf einzelner Christen diese geschichtsprägende Dynamik überhaupt ermöglichen konnte, müssen wir die christliche Gemeinschaft ihrer heidnischen Nachbarschaft gegenüberstellen.
Da eine zahlreiche männliche Nachkommenschaft zwecks späterer Kriegsführung und Nahrungsproduktion als notwendig erachtet wurde, war die Tötung weiblicher Säuglinge in den Tagen der Frühkirche weit verbreitet – eine tragische Vorgehensweise, die in den meisten Familien eine Rolle gespielt haben muss.
Eine Untersuchung der Delphi-Inschrift hat Historikern die Rekonstruktion von rund 600 Familiengeschichten ermöglicht: Nur sechs Familien hatten mehr als eine Tochter großgezogen! Heute würden wir von geschlechtsspezifischem Kindermord sprechen. Auch die Abtreibung war in der griechisch-römischen Gesellschaft eine gängige Methode. Wer sich nun zum Christentum bekehrt und zur Nachfolge Christi entschlossen hatte, lehnte Abtreibung und Kindestötung vermutlich ab. Aus diesem Grund sprach die christliche Lebensführung besonders die griechisch-römischen Frauen an: Binnen kurzer Zeit waren in der christlichen Kirche mehrheitlich Frauen vertreten, während der heidnischen Religion vorrangig Männer anhingen.
Alle diese Frauen führten in ihrem Bemühen, Christus nachzufolgen, ein dem Herrn gewidmetes Leben. Sicher gab es auch begehrenswerte heidnische Frauen, aber die Anzahl tugendhafter christlicher Frauen war so hoch, dass sich ein Mann, der nach einer guten Frau Ausschau hielt, eher zur Gemeinschaft der Christen hingezogen fühlte. Immer mehr heidnische Männer strömten zur Kirche, um dort eine Frau fürs Leben zu finden.
Christliche Frauen erfreuten sich einer deutlich besseren Lebensqualität als viele ihrer heidnischen Geschlechtsgenossinnen in der griechisch-römischen Gesellschaft. Genau das zeichnete die auf einen gemeinsamen christlichen Lebenswandel bedachte Christengemeinde aus.
So lehnte die christliche Gemeinschaft die übliche Doppelmoral ab, der zufolge den Frauen Keuschheit abverlangt, Männern hingegen ein ausschweifendes Sexleben zugestanden wurde. Die veränderte Einstellung prägte nicht nur die Gemeindemitglieder und alle, die Kontakt mit ihnen pflegten, sondern wurde auch an nachfolgende Generationen weitergegeben, sodass die Befolgung des für alle gleichermaßen geltenden Gehorsamsgebots geradezu exponentielle Auswirkungen zeitigte.
Die Christen legten auch in ihrem Verhalten Witwen gegenüber Zeugnis für die Liebe Gottes ab. Heidnische Frauen waren häufig gezwungen, gegen ihren Willen wieder zu heiraten; sie wurden Eigentum des neuen Ehemannes und verloren ihren Anspruch auf Erbe und persönliche Vermögenswerte. Sie konnten auch einfach weggeschickt werden und standen dann mittellos da. Ganz anders bei den Christen: Die christlichen Gemeindemitglieder unterstützten mittellos gewordene christliche Witwen. Zudem brauchten christliche Frauen nicht in so jungem Alter zu heiraten. Die Bedeutung dieses Vorteils wird ersichtlich, wenn man bedenkt, dass Mädchen in der Welt der Griechen und Römer häufig noch vor der Pubertät zur Eheschließung gezwungen wurden. Manche Historiker schätzen, dass an die 50 Prozent der heidnischen Mädchen die Ehe vollziehen mussten, bevor sie 14 Jahre alt waren. Christliche Frauen hatten es viel besser, weil alle Gemeindemitglieder ausdrücklich um christlichen Lebenswandel bemüht waren.
Führungsrollen und somit auch Macht und Status waren den christlichen Frauen in keiner Weise verwehrt – sie konnten genauso eine geistliche Führungsrolle übernehmen wie die Männer. Der Terminus Diakonin ist eine moderne Erfindung und entspricht nicht der ursprünglichen Gepflogenheit, der zufolge ein Diakon sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechts sein konnte.
Stark zeigt auch, wie das Verhalten der christlichen Gemeinden zu Zeiten der Pest letztlich die Ausbreitung der Kirche beschleunigte. Das Römische Reich wurde in den ersten Jahren der Frühkirche von zwei großen Pestepidemien heimgesucht. Die erste wütete zwischen 165 und 180 n. Chr. auf dem Kontinent, die zweite rund 100 Jahre später. Innerhalb von 15 Jahren forderte die erste Pest Menschenleben, deren Zahl mit einem Viertel bis Drittel der Bevölkerung im ganzen Reich anzusetzen ist. Auch Kaiser Mark Aurel fiel der Pest zum Opfer. (Sein Tod wurde zu Beginn des Films Gladiator geschildert.) Die Christen waren von der Pest genauso betroffen wie ihre heidnischen Nachbarn. Doch anders als die Heiden fanden die meisten Christen in diesen Krisenjahren Halt an Jesus Christus – im Leben wie im Sterben. Stellen Sie sich vor, Sie wären in dieser Situation: Der Gestank des Todes umgibt Sie. Karawanen von Karren ziehen durch die Stadt und aus der Stadt hinaus, um all die Leichen zu einer kommunalen Halde zu transportieren, wo sie vergraben oder verbrannt werden sollen. Die Menschen um Sie herum sterben wie die Fliegen. Wer wird der Nächste sein? Unter solchen Umständen suchen die Menschen eine Antwort auf ihre Fragen über Leben, Tod und Gott.
Die Heiden hatten niemanden, an den sie sich halten konnten. Ihre Priester kannten keine Antwort, von ihren Göttern kam keine Hilfe. Heidnische Gottheiten mussten beschwichtigt werden, damit sie keinen Schaden anrichteten. Sie waren den Heiden nicht liebevoll geneigt. Heidnische Götter verhießen kein ewiges Leben – es sei denn in der dunklen Unterwelt.
Die Christen hingegen fanden Liebe, Unterstützung und Trost in Jesus Christus. Sie bewahrten Hoffnung und Frieden, genährt durch den Heiligen Geist. Sie erfuhren und vermittelten eine durch Liebe geprägte Gemeinschaft selbst inmitten der heftigen Anfechtungen, die sie zu bestehen hatten.
Um das Jahr 260 n. Chr. schrieb Dionysius: „Die meisten unserer christlichen Brüder bewiesen grenzenlose Liebe und Loyalität; nie schonten sie sich, immer dachten sie nur an die anderen. Ungeachtet aller Gefahren nahmen sie sich der Kranken an, erfüllten alle ihre Bedürfnisse und betreuten sie im Namen Christi und schieden mit ihnen in gelassener Glückseligkeit aus diesem Leben; denn sie steckten sich bei anderen an, zogen sich die Krankheit ihrer Nachbarn zu und ertrugen frohen Herzens ihre Schmerzen. Viele nahmen bei der Betreuung und Pflege anderer deren Tod auf sich und starben an ihrer statt ... So verloren die Besten unter unseren Brüdern ihr Leben, viele Presbyter, Diakone und Laien, die ein so hohes Lob gewannen, dass ein solcher Tod als Resultat großer Frömmigkeit und starken Glaubens in jeglicher Hinsicht einem Märtyrertod gleichzukommen scheint“ (Stark, S. 82) .
Die Heiden strömten in Scharen fort, um der Pest zu entfliehen – darunter Herrscher, Priester und Ärzte ohne Hoffnung oder Anker für ihre Seele. Sie ließen ihre Kranken zurück, allein, ohne Pflege und Versorgung mit den grundlegenden Notwendigkeiten des Lebens. Die Christen blieben in ihrer Gemeinschaft, um für ihre Angehörigen und Nachbarn zu sorgen. In vielen
Fällen war die Liebe Gottes in ihnen so groß, dass sie auch in die Häuser kranker und verlassener Heiden gingen und sich ihrer annahmen.
Diese kleinen individuellen Akte der Barmherzigkeit, zu denen Menschen fähig sind, die sich fragen, was wohl Jesus in ihrer Situation tun würde, zeigten tiefgreifende Wirkung. Das christliche Vorbild stand in so krassem Gegensatz zum Verhalten der Heiden, dass sich viele Überlebende zu den Christen ihrer Umgebung hingezogen fühlten. Ihr eigenes Glaubenssystem hatte sie im Stich gelassen, aber ihre christlichen Nachbarn schienen einen besseren Weg zu kennen. So fanden viele Heiden zu Christus.
Es bedurfte keiner dramatischen Wunder und spektakulärer Heilungen. Die Christen warteten nicht auf ein formal organisiertes Programm. Jesus hatte gedient – sie folgten seiner Führung.
Epidemiologen schätzen, dass bereits eine Grundversorgung wie die Bereitstellung von ausreichend Wasser und Wärme die Überlebensrate um 30 Prozent zu steigern vermag. Infolgedessen gab es unter den Christen erheblich mehr Überlebende als unter den Heiden. Allein dies reichte aus, um die Quote von Heiden und Christen deutlich zu verändern. Und auch diejenigen Heiden, die von Christen versorgt wurden, hatten eine größere Überlebenschance und pflegten später liebevolle Kontakte zu Christen, denen sie früher mit Argwohn begegnet waren. Die Bekehrungsraten schnellten in die Höhe.
Dieser Wandel im Status quo wirkte sich in einer so dramatischen Weise aus, dass Kaiser Julius eine Beschwerde an seinen Hauptpriester in Galatien schrieb; er verlangte darin, man müsse sich derselben Tugenden befleißigen wie die Christen, die er als die Galiläer bezeichnete.
An einen anderen Priester schrieb Julius: „Als die Armen schließlich unversorgt zurückgelassen wurden und bei den Priestern keine Beachtung fanden, bemerkten dies die gottlosen Galiläer, die ihre mildtätige Nächstenliebe walten ließen.“ Und weiter schrieb er: Die gottlosen Galiläer helfen nicht nur ihren eigenen Armen, sondern auch den unsrigen; es ist für jeden offensichtlich, dass wir unseren Leuten keine Hilfe zukommen lassen“ (Ebda., S. 83-84).
Julius hasste „die Galiläer“, musste aber eingestehen, dass ihr Vorbild Wirkung zeigte, obgleich er den Verdacht hegte, ihre guten Werke entsprängen irgendwelchen Nebenabsichten. Wie viele unserer heutigen Zeitgenossen vermochte er die Dinge nur unter Marketingaspekten zu sehen. Er konnte nicht ahnen, dass er selbst und sein ganzes System mit Jesus Christus konfrontiert wurde – durch das kollektive Leben all derer, die dem Ruf folgten: „Folgt mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen.“
Das war damals, aber würde es auch heute in unserer komplizierten modernen Welt so funktionieren? Die Technologie mag eine andere sein, doch unsere grundlegenden Bedürfnisse haben sich nicht gewandelt. In vielen von uns heutigen Menschen ist nach wie vor ein Verlangen vorhanden, das der Philosoph Blaise Pascal als ein „von Gott geschaffenes Vakuum“ bezeichnet hat.
Wenn wir beten und Gott bitten, er möge seinen Willen in unserem Leben geschehen lassen – inwieweit meinen wir das wirklich ernst? Wir sind bemüht, Gottes Willen mit unseren Tagesplänen nicht zu behindern. Aber es geht doch wohl um mehr.
Gott möchte durch unser persönliches Leben im Alltag Ergebnisse bewirken, die wir weder von uns aus herbeiführen oder vorhersagen können. Die Nettobilanz wird um vieles höher ausfallen als alles, was wir „für den Herrn tun“ könnten – und ihre Tragweite lässt sich noch erhöhen, wenn wir Gott durch uns als Gemeinschaft von Gläubigen wirken lassen.
Denken wir an die Worte Jesajas, die Christus seinem Priesteramt als Leitmotiv vorangestellt hat: „Tröstet, tröstet mein Volk!“ Sagt ihnen, „dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist“. Und „macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott“ ( Jes 40, 1-3) .
Eine solche Wegbereitung erfolgt nicht, wenn wir auf der Stelle treten. Vielmehr ist sie das Resultat unserer Bemühungen, denen, die nach uns kommen, möglichst viele Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Das ist unsere Aufgabe – wir müssen denen, die verloren sind, den Weg zu Gott bereiten. Würden wir uns diese Perspektive zu Eigen machen, müsste sich die Art, wie wir unsere Zeit und unsere Ressourcen einsetzen, zwangsläufig ändern. Wir würden beginnen, mehr Zeit und Energie für Menschen anstatt für Dinge aufzuwenden. Auch würden wir uns stärker auf bereits vorhandene oder ausbaufähige Kontakte zu Menschen konzentrieren, die noch keine rettende Beziehung zu Jesus kennen. Wir wären für sie da, würden ihnen im Kleinen wie im Großen dienen, wann immer sich die Möglichkeit dazu bietet.
Die westliche Zivilisation wurde einst für das Christentum gewonnen durch gewöhnliche Leute, die ihrem Herrn folgten. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns wieder auf den Weg machen! ❏
Dr. Randal Dick war Missionsleiter der WKG von 1993 bis 2007.
„Sie sind bettelarm und machen viele reich ...“
Die Christen sind weder durch Heimat, noch durch Sprache, noch durch Sitte von den anderen Menschen geschieden. [...] In Kleidung, Nahrung und Lebensweise fügen sie sich der Landessitte; und doch zeigen sie eine bewunderungswürdige, eine anerkanntermaßen durchaus ungewöhnliche Gestaltung ihres Gemeinschaftslebens. Sie wohnen in ihrer eigenen Heimat, aber nur wie auswärtige Gäste im Lande. Sie beteiligen sich an allem wie Bürger und ertragen alles wie Fremde; jede Fremde ist ihnen Heimat. Jede Heimat ist ihnen Fremde. Sie heiraten wie alle anderen. Sie zeugen Kinder. Aber sie setzen die Kinder nicht aus, wenn sie geboren sind. Sie haben gemeinsamen Tisch, aber kein gemeinsames Schlaflager. Sie sind im Fleisch, aber sie leben nicht nach dem Fleisch. Sie leben auf der Erde, aber ihre Zugehörigkeit als Bürger liegt im Himmel. Sie gehorchen den bestehenden Gesetzen; aber durch ihre Lebenshaltung besiegen sie die Gesetze. Sie lieben alle und werden von allen verfolgt. Man kennt sie nicht, und man verurteilt sie, man tötet sie, und man bringt sie gerade dadurch zum Leben. Sie sind bettelarm und machen viele reich. An allem fehlt es bei ihnen, und doch haben sie an allem Überfluss. Sie werden entehrt, und gerade in Entehrung werden sie verherrlicht. [...] Sie werden gekränkt und verleihen Segen. [...] Während sie Gutes tun, werden sie wie schlechte Menschen verurteilt. Mit dem Tode bestraft, freuen sie sich in der Gewissheit, zum Leben erweckt zu werden. [...] Um es mit einem Wort zu sagen: was in dem Leib die Seele ist, das sind in der Welt die Christen. [...] Die Seele wohnt im Leib; aber sie stammt nicht aus dem Leib; so wohnen die Christen in der Welt, sind aber nicht von der Welt. [...] In eine derartige Aufgabe hat Gott die Christen hineingestellt; ihr dürfen sie sich nicht entziehen. (Ausschnitt aus einem Brief aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.)