Der sonntägliche Gottesdienst in der frühen Kirche
Von Ted Johnston

Warum feiern die meisten Christen am Sonntag Gottesdienst? Wann begann diese Praxis, und warum? Ist Sonntag der neue Sabbat? Analysieren wir das Zeugnis der biblischen und historischen Berichte.

Das Zeugnis des Neuen Testaments
Ein früher Hinweis auf Vielfalt bei den Gottesdienstpraktiken der Christen findet sich im Römerbrief, der um 56 n. Chr. geschrieben wurde. Paulus schreibt an jüdische und nichtjüdische Christen, die „über Meinungen“ stritten (Röm 14,1), auch über Tage: „Der eine hält einen Tag für höher als den anderen; der andere aber hält alle Tage für gleich“ (Röm 14,5). Da die Meinungsverschiedenheit zwischen Judenchristen und Heidenchristen bestand, ging es wahrscheinlich auch um den Sabbat und die Heiligung des Feiertages. Möglicherweise war der Streit um den Sabbat/Sonntag schon aufgekommen (...).

Wichtig ist auch das Zeugnis der Evangelien, die gegen Ende des ersten Jahrhunderts niedergeschrieben wurden. Alle vier (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) berichten mehrfach von Zusammenkünften des auferstandenen Jesus mit den Jüngern am ersten Tag der Woche, d. h. Sonntag (Mt 28,1, 8-10; Mk 16,2; Lk 24,1. 13. 29. 36; Joh 20,1; 14-18, 19-20, 26). So wird der Sonntag bewusst mit der Versammlung der Jünger in der Gegenwart des Herrn verbunden. Bei diesen Versammlungen beteten sie ihn an, wurden von ihm unterwiesen und hatten vor allem Tischgemeinschaft mit Jesus - der „das Brot brach“ und damit das Letzte Abendmahl vergegenwärtigte.

Eine weitere mögliche Verknüpfung des Sonntag mit der Versammlung der Gemeinde ist 1. Korinther 16,1, wo Paulus eine Kollekte für die Armen am ersten Tag der Woche empfiehlt. Es war bei den Gottesdiensten der frühen Kirche üblich, Almosen für die Armen und Bedürftigen zu sammeln, nachdem man das Mahl des Herrn geteilt hatte (siehe unten, und beachten Sie die enge Verbindung zwischen 1. Kor 16,1 und der Passage über die Auferstehung in 1. Kor 15).

Das Zeugnis der frühchristlichen Geschichte
Auch außerbiblische historische Berichte aus der frühchristlichen Zeit bestätigen, dass der erste Tag der Woche in der frühen Kirche eine Zeit für Versammlungen war. In der Didache, einem syrischen Kirchenmanual aus den Jahren zwischen 70 und 90 n. Chr., heißt es: „An jedem Tag des Herrn - seinem besonderen Tag - kommt zusammen und brecht Brot und sagt Dank; zuvor bekennt eure Sünden, damit euer Opfer rein sei (...).“ Hier steht das Herrenmahl („brecht Brot/euer Opfer“) im Mittelpunkt eines wöchentlichen Gottesdienstes. Der erste Tag der Woche wird als „Tag des Herrn“ bezeichnet, nicht mit dem heidnischen Namen „Sonntag“.

Beachten Sie den Begriff „Tag des Herrn“ - noch vor der Niederschrift der Offenbarung des Johannes. Dort berichtet Johannes von Visionen über den „Tag des Herrn“ (Offb 1,10). Möglicherweise verwendet er hier einen Begriff, der bei den Christen schon für den ersten Tag der Woche als Tag des Gottesdienstes stand. Andere Berichte weisen darauf hin, dass Judenchristen weiterhin am Sabbat (Samstag) in Synagogen Gottesdienst feierten und sich dann am Sonntag (dem Tag des Herrn) zuhause trafen, um das Mahl des Herrn zu teilen. Diese Zweigleisigkeit hielt an, bis die Christen aus der Gemeinschaft der Synagoge ausgestoßen wurden und der Sonntag zum Haupttag für den christlichen Gottesdienst wurde.

Um 150 n. Chr. schrieb der christliche Schriftsteller und Märtyrer Justinus, der die christlichen Praktiken in Rom, Asien und Palästina kannte, seine Erste Apologie (eine „Apologie“ ist eine Verteidigung des Glaubens). Er schildert die Praxis des Herrenmahls am Sonntag (er verwendet das Wort „Sonntag“, weil er für Heiden schreibt) wie folgt: „An dem Tag, der Sonntag genannt wird, versammeln sich die, die in Städten oder auf dem Land wohnen, an einem Ort, und die Erinnerungen der Apostel oder die Schriften der Propheten werden gelesen, so lange es die Zeit erlaubt. Wenn der Vorleser geendigt hat, fordert uns der Vorsteher in einer Ansprache auf, diesen edlen Dingen nachzueifern. Dann stehen wir alle gemeinsam auf und bringen Gebete dar. Und wie zuvor gesagt, wenn wir das Gebet beendet haben, wird Brot gebracht und Wein und Wasser, und der Vorsteher schickt in ähnlicher Weise Gebete und Danksagungen empor, so gut er es vermag, und die Versammelten bekräftigen sie mit dem Amen; dann werden die geweihten Elemente gespendet und von allen empfangen; den Abwesenden werden sie durch Diakone gebracht. Wer wohlhabend ist und dies wünscht, spendet etwas; jeder so viel er will. Was gesammelt wurde, wird dem Vorsteher übergeben, und er sorgt für Waisen und Witwen und für die, die durch Krankheit oder andere Gründe Not leiden, für die Unfreien und für die Fremden, die bei uns verweilen - kurz, er ist der Beschützer aller Bedürftigen. Wir alle halten diese Versammlung am Sonntag ab, weil dies der erste Tag ist, an dem Gott aus Finsternis und Stoff das All erschuf, und weil Jesus Christus, unser Heiland, am selben Tag von den Toten auferstand. Denn sie kreuzigten ihn am Tag vor dem Samstag, und am Tag nach dem Samstag erschien er seinen Aposteln und Jüngern und lehrte sie diese Dinge, die ich auch an euch weitergegeben habe, damit ihr sie ernstlich bedenkt (...).“

Dies ist der älteste ausführliche Bericht über einen christlichen Gottesdienst, den wir haben. Der Sonntag wird mit der ersten Schöpfung wie auch der neuen Schöpfung in Verbindung gebracht, die mit der Auferstehung Jesu begonnen hat (siehe 2. Kor 5,17). Dadurch, dass sie den Sonntag „Tag des Herrn“ nannten, assoziierten die frühen Christen ihn auch mit der Wiederkunft des Herrn am Ende der Zeit (von hebräischen Propheten ebenfalls „Tag des Herrn“ genannt).

Ist der Sonntag der christliche Sabbat?
Nichts in diesen frühen biblischen und historischen Berichten deutet darauf hin, dass der Sonntag als christlicher „Sabbat“ verstanden wurde. Viele Christen arbeiteten am Sonntag (viele waren Sklaven), und deshalb fand der Sonntagsgottesdienst am Abend oder, noch häufiger, am frühen Morgen statt. Der nichtchristliche Schriftsteller Plinius schreibt im Jahr 112 an Kaiser Trajan über die christlichen Gottesdienstpraktiken: „Sie pflegten sich an einem bestimmten, festgesetzten Tag (Sonntag) zu versammeln, ehe es hell wurde, und dann sangen sie im Wechselgesang eine Hymne auf Christus wie auf einen Gott und verpflichteten sich durch feierlichen Eid, keine bösen Taten zu tun, sondern niemals einen Betrug, Diebstahl, Ehebruch zu begehen, niemals ihre Arbeit zu fälschen oder etwas ihnen Anvertrautes zu verweigern, wenn es von ihnen gefordert würde; danach war es ihre Sitte, sich zu trennen und sich dann wieder zu versammeln, um Speisen zu teilen, aber Speisen von gewöhnlicher und unverdächtiger Art (...).“

Erst im 4. Jahrhundert unter Konstantin wurde der Sonntag zum öffentlichen Feiertag gemacht. Mit der Zeit sahen manche den Sonntag als christlichen „Sabbat“. Dieser Neuerung widersprach der christliche Reformator Luther energisch [RÜCKÜBERSETZUNG!]: „Wenn irgendwo der Tag (Sonntag) nur um des Tages willen geheiligt wird - wenn irgendwo jemand seine Einhaltung auf eine jüdische Grundlage stellt, dann befehle ich euch, arbeitet an ihm, reitet an ihm, tanzt an ihm, schlemmt an ihm - tut alles, das diese Beschneidung der christlichen Freiheit beseitigt“ (zitiert aus „Tischgespräche“). Abgesehen von einem Anflug von Antisemitismus begriff Luther, dass der Neue Bund von Nichtjuden nicht verlangt, den Sabbat zu heiligen. Jesus, nicht ein Wochentag (Samstag oder Sonntag) ist Gottes „Ruhe“ (Sabbat) für die Christen.

Was sollen wir tun?
Für uns geht es nicht darum, einen Tag zu heiligen. Im Geist von Römer 14 überlassen wir die Frage der heiligen Tage dem persönlichen Gewissen (siehe Röm 14,5-6). Die Frage für uns ist: Welcher Tag ist der beste, um uns zur Anbetung des auferstandenen Herrn zu versammeln? Wie oben bemerkt, weisen biblische und andere Quellen darauf hin, dass die frühen Christen hier flexibel waren - sie richteten sich nach biblischen Beispielen und nach der kulturellen Situation. Diese Flexibilität spiegelt ihre Auffassung wider, dass der Herr nicht durch Gebot einen Tag über den anderen stellt. Wir stellen jedoch fest, dass frühe Christen am Sonntag Gottesdienst hielten. Mit der Zeit wurde der Sonntag der Tag, den die meisten Christen für den Gottesdienst vorzogen.

Wenn wir über unsere eigenen Gottesdienstpraktiken nachdenken - auch über den Tag für den wöchentlichen Gottesdienst -, sollten wir uns klar an der dreifachen Mission orientieren, die der Herr uns aufgetragen hat:
1. Anbetung. Wir alle sind berufen, uns in Anbetung nach oben zum Herrn auszustrecken - jede Woche zu feiern, was Jesus für uns getan hat. Welcher Tag ist dafür der beste?
2. Einheit. Wir alle sind berufen, uns nach innen auszustrecken, um einander zu fördern. Welcher Tag ist der geeignetste und bequemste, um uns regelmäßig zu versammeln?
3. Zeugnis. Wir alle sind berufen, uns nach außen zu den Kirchenfernen in unserer Kultur und unserem Umfeld auszustrecken und die zu Jüngern zu machen, die Gott unserer Gemeinschaft zuführt. Welcher Tag ist der beste, um sie zu erreichen?


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