Die gewöhnliche Zeit

Von Tim Sitterley

Die Zeit zwischen Pfingsten und Advent ist ein wesentlicher Bestandteil des christlichen Kalenders.

Nach dem Pfingstsonntag sieht der christliche Kalender eine sechsmonatige Zeit vor, die auf Englisch „Ordinary Time“ genannt wird [1]. Ins Deutsche übersetzt müsste dieser Zeitabschnitt „Die gewöhnliche Zeit“ heißen, ein Ausdruck, den es im Duden nicht gibt und der dazu noch missverständlich ist.

Einige englischsprachige Theologen haben infrage gestellt, wie irgendein Teil des Kirchenjahres als „gewöhnlich“ bezeichnet werden kann, u.a. der Theologe George Weigel, der den Ausdruck ‚Ordinary Time‘ als terminologisches Gräuel bezeichnete.

Kritiker gehen davon aus, dass das Adjektiv im Titel „Die gewöhnliche Zeit“ sich auf alltägliche, weltliche und langweilige Dinge bezieht. Das Wort „gewöhnlich“ bedeutet hier jedoch nicht „Routine“ oder „nichts Besonderes“. Vielmehr bezieht es sich auf die „Ordnungszahlen“ (1., 2., 3. usw.), mit denen die Sonntage benannt und gezählt werden (z. B. der dritte Sonntag nach Pfingsten). Der Begriff ‚ordinary‘ stammt vom lateinischen ordinalis, was „nummeriert“ oder „gezählt“ bedeutet, und von tempus ordinarium, „gemessene Zeit“. Die Dauer dieser Zeit variiert von Jahr zu Jahr, da sie vom Ostertermin abhängt.

Wie absurd wäre es, wenn wir als Glaubensgemeinschaft ‚Die gewöhnliche Zeit‘ nur als eine ‚gewöhnliche‘ Zeit betrachten würden? Jesus als Mittelpunkt unseres Lebens zu verkünden, sich auf die heiligen Geheimnisse der Geburt, des Lebens, des Todes, der Auferstehung, der Himmelfahrt und des Kommens des Heiligen Geistes zu konzentrieren, nur um dann fast die Hälfte des Jahres eine Auszeit zu nehmen?

Was sollte der Schwerpunkt dieser wichtigen Jahreszeit sein? Wie können wir verkünden, dass Jesus im Mittelpunkt steht, ohne etwas zu feiern? Ganz einfach. Wir feiern Jesus jeden Tag als den Mittelpunkt unseres Lebens. Wir suchen das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen und vertiefen unsere Beziehung zu unserem Herrn.

Die Predigten in Verbindung mit den liturgischen Lesungen [2] und die Gebete der gewöhnlichen Zeit betonen das Thema Jüngerschaft. Was bedeutet es, ein Jünger Jesu zu sein, wenn es um Geld, Zeit, Prioritäten usw. geht? Wie begegnen wir dem Reich Gottes und wie nehmen wir es in unserem täglichen Leben wahr? Was sind die Bedingungen der Jüngerschaft? Wie können wir gemeinsam in unserem individuellen und gemeinsamen Glauben tiefer wachsen? Dies sind genau die Elemente, auf die wir uns konzentrieren, wenn wir über Jesu Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums sprechen. In unserer Vorbereitung auf die „nächste große Sache“ ist es leicht möglich, Gott im Gewöhnlichen zu übersehen. Wir sind einfach zu beschäftigt. Die Bibel ermahnt uns, die Zeit zu nutzen. Doch wie viel Zeit verlieren wir in unserer täglichen und wöchentlichen Betriebsamkeit?

Zu oft habe ich das gesehen und erlebt, was die Dichterin und Autorin Kathleen Norris „die alltäglichen Mysterien" nennt. Frau Norris erinnert uns daran, dass wir in den alltäglichen Momenten unseres Lebens über Gott nachdenken können. Sie zitiert Therese von Lisieux, die schrieb, dass Christus ihr nicht „in meinen Gebetsstunden ... sondern inmitten meiner täglichen Beschäftigungen“ am intensivsten gegenwärtig war. Frau Norris spricht über den Wert von sich wiederholenden Tätigkeiten wie Spazierengehen, Brotbacken oder Wäsche waschen. Sie merkt an, dass diese alltäglichen Tätigkeiten gut geeignet sind, um nachdenklich zu werden und auf Gott zu hören.

Sorgen über die Zukunft lenken uns oft von der Tagesarbeit ab, zu der wir berufen sind. Die Verantwortung, sich um das zu kümmern, was an einem bestimmten Tag ansteht, kann leichter erfüllt werden, ohne sich um das zu kümmern, was vor uns liegt. Jesus spricht im Folgenden an, wie wichtig es ist, die Zukunft in seine Hände zu legen:

Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat (Mt 6,34).

Jesus zu finden, bedeutet also, ihn im gegenwärtigen Augenblick und am gegenwärtigen Ort zu suchen. Die Vergangenheit ist vergangen, die Zukunft liegt in weiter Ferne. Der Weg mit Jesus erfordert, dass wir im Gewöhnlichen präsent sind. In der Zukunft wird es genug Zeit geben, um das nächste große Fest vorzubereiten. Aber im Moment konzentrieren wir uns auf die Nachfolge, die Gemeinschaft und das Miteinander. Und Jesus inmitten unseres gewöhnlichen Lebens zu finden und mit ihm zu gehen, wird niemals alltäglich werden.

Anmerkung:
[1] Grace Communion International (GCI) orientiert sich beim Kirchenjahr nach der anglikanischen Konfession, die hauptsächlich im englischsprachigen Raum vertreten ist. Das anglikanische Kirchenjahr umfasst evangelische und einige katholische Festtage historisch bedingt durch die Reformation in England und die Trennung von der katholischen Kirche. Zur ‚Gewöhnlichen Zeit‘ nach dem anglikanischen Kirchenjahr gehören auch das Dreieinigkeitsfest (Trinitatis) und das Christkönigsfest, was in diesem Artikel nicht behandelt wird. WKG Deutschland ist mit GCI assoziiert und feiert die Hauptfesttage nach dem evangelischen Kirchenjahr.

In der evangelischen Kirche Deutschlands wird die ‚Ordinary Time‘ als Trinitatiszeit bezeichnet. Sie beginnt mit dem ersten Sonntag nach Pfingsten (Trinitatis) und dauert bis zum Ewigkeitssonntag (auch Totensonntag genannt), dem letzten Sonntag vor dem 1. Advent.

[2] Die Predigten in den Gottesdiensten unserer amerikanischen Hauptkirche (GCI) richten sich nach dem Revised Common Lectionary; im Deutschen vergleichbar mit der Perikopenordnung.


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