Was ist aus den Wundern geworden?

Von Robert Millman

Aus den Evangelien wissen wir, dass Jesus und seine Jünger Wunder vollbrachten – sogar häufig. Auf die heute in seiner Nachfolge lebenden Menschen trifft dies nicht zu.

Heilungen zum Beispiel sind dünn gesät und gewöhnlich auch nicht spektakulär genug, um eine Stadt in Aufregung zu versetzen oder es auf die Titelseite der Lokalzeitungen zu schaffen.

Kein Christ hat je von sich behauptet, 5.000 Menschen mit der Mahlzeit eines Jungen satt gemacht zu haben, auf Wasser wandeln zu können, Tote zum Leben wiedererweckt oder Wasser in Wein verwandelt zu haben. Und wir haben auch noch von keinem gehört, der bei Steuerfälligkeit Geld im Maul eines Fisches vorfand.

Öffentliche „Wunderfeldzüge“ werden mittlerweile sowohl von den Medien als auch von angesehenen christlichen Geistlichen genauen Überprüfungen unterzogen, wobei diejenigen, die Gläubige auf die Bühne hinaufkomplimentieren, um sie dann von Krankheiten wie Krebs, Herzschmerzen, Kreislaufstörungen und ähnlichem für geheilt zu erklären, schon argen Zweifeln ausgesetzt sind. Spätere Nachfragen haben sich jedenfalls als peinlich erwiesen.

Vielleicht hat Ihnen aber auch ein Freund oder Bekannter glaubhaft versichert, innigerer Glaube würde die Wunder zurückbringen, woraufhin Sie sich für das Leiden eines geliebten Mitmenschen schuldig bzw. angesichts Ihrer eigenen anhaltenden Gesundheitsprobleme deprimiert fühlten.

Es handelt sich also um ein vielschichtiges Problem, und zweifellos wird dieser kurze Artikel beim Leser so manche Frage unbeantwortet lassen. Warum aber gab es gerade während Jesu Wirken auf Erden und in den Anfangsjahren der ersten frühchristlichen Gemeinden so viele Wunder?

Das erste Wunder
Wir wissen, dass Jesu öffentliches Wirken am Jordan beginnt, wo er – wahrscheinlich direkt nach dem großen, im Herbst begangenen Laubhüttenfest – von Johannes dem Täufer getauft wird. Dann fordert er mehrere Jünger des Johannes auf, ihm nachzufolgen.

Nachdem er das Lager des Johannes verlassen hat, macht er sich zusammen mit diesen neuen Jüngern auf nach Kana im Norden des Landes, um an einer Hochzeit teilzunehmen. Das Ende der Geschichte kennen wir. Der Gesellschaft geht der Wein aus – ein für den Gastgeber äußerst peinlicher Umstand, da Gastfreundschaft in dieser Kultur zu den Grundwerten zählt. Ohne viel Aufhebens verwandelt Jesus Wasser in Wein, aber nicht, um die Feststimmung zu erhalten. Der Apostel Johannes schreibt über die Beweggründe Jesu: „Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat, geschehen in Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn“ (Joh 2,11).

Dieses Wunder wird als Zeichen, Merkmal oder auch Hinweis darauf gewertet, dass Jesus mehr als ein Mensch ist. Es wird vollbracht, um seine Herrlichkeit zu offenbaren und diese neuen Jünger dazu zu ermuntern zu glauben, was er über sich selbst sagt, so unglaublich seine Behauptungen auch klingen mögen.

Zeichen waren der Beweis für Jesu Behauptungen
Rückblickend bezeugen die Jünger, was sie erlebt haben, indem sie auf die Wunder Jesu als Zeichen bzw. Beweis seiner Göttlichkeit Bezug nehmen. Lesen Sie, was Petrus gegenüber der versammelten Pfingstgemeinde hierzu vorbrachte: „Ihr Männer von Israel, hört diese Worte: Jesus von Nazareth, von Gott unter euch ausgewiesen durch Taten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst ...“ (Apg 2,22).

Als vernünftig denkender Mensch würden die meisten einen Mann, der von sich behauptet, Gottes Sohn zu sein, als Ketzer oder von Wahnvorstellungen Getriebenen zurückweisen; was aber, wenn dieser immer wieder Gott um Wundertaten ersuchte und seine Gebete sofort erhört wurden? Würden wir uns dann nicht genötigt sehen, seine Wunder als Glaubensbeweis dafür anzuerkennen, dass er die Wahrheit sagt?

Die jüdischen Führer stellten die Wundertaten Jesu nicht ganz ohne Berechtigung infrage: Israels Propheten hatten durchaus auch Wunder vollbracht, hatten jedoch nicht von sich behauptet, Gott selbst zu sein! Falsche Propheten hatten sich gar ihre ureigensten Versionen von „Zeichen und Wundern“ geschaffen. Jesus und seine Jünger aber hatten ständig Wunder vollbracht, und nur allzu schnell stehen die jüdischen Führer mit ihrer Weigerung, die Werke des Heiligen Geistes anzuerkennen, als starrköpfig, eigensinnig und voreingenommen da (Mt 12,30-32).

Jesus vollbrachte sogar Wunder, um die jüdischen Führer in Gegenwart seiner eigenen gläubigen Landsleute herauszufordern. Schon die Propheten hatten vorausgesagt, der Messias werde sein Volk von Sünden reinwaschen. Er werde geistliche Heilung vollbringen – die Aussöhnung zwischen Mensch und Gott (Jes 53,5-6). Petrus bekräftigt, dass er diese Heilung durch Hingabe seiner selbst in einen grausamen Opfertod herbeiführte: „... der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden“ (1. Petr 2,24).

Wie aber konnten die ersten Gläubigen – jene, die zu allererst um ihrer Erlösung willen auf Jesus vertrauten – wissen, dass dieses unsichtbare geistliche Wunder vollbracht worden war? Jesus ließ sie nicht im Ungewissen, sondern bot Zeichen zur Untermauerung seiner Worte an. Als er vor der jüdischen Führerschaft sprach, beschied er einem Gelähmten: „Mensch, deine Sünden sind dir vergeben“ (Lk 5,20).

Ihre Reaktion können wir uns gut vorstellen. „Und die Schriftgelehrten und Pharisäer fingen an zu überlegen und sprachen: Wer ist der, dass er Gotteslästerungen redet? Wer kann Sünden vergeben als allein Gott?“ (Vers 21).

Da er ihre Gedanken kennt, fragt Jesus Christus die Pharisäer: „Was denkt ihr in euren Herzen? Was ist leichter, zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“ (Vers 22-24).

Worum ging es?
Jesus heilte Menschen nicht, weil Gläubige eine bessere Gesundheit verdienen als Ungläubige; er heilte, um zu zeigen, dass er mehr als Mensch und Prophet war; er war der verheißene Menschensohn, von dem Daniel gesprochen hatte, und der Prophet, dessen Kommen Mose versprochen hatte. Er war Gott im Fleische, gekommen, um die Menschen mit Gott auszusöhnen (Kol 1,19-22).

Auch Jesu häufiges Heilen von Blinden und Unreinen könnte man hinterfragen. Obgleich es zutrifft, dass Jesus Mitleid mit seinen Landsleuten hatte – er sprach von ihnen als verlorenen Schafen, die schlechten Hirten dienen –, war ihm, dem wahren Hirten Israels, mehr daran gelegen, das geistlich Unreine reinzuwaschen und das geistliche Sehvermögen wiederherzustellen als körperliche Leiden vorübergehend zu kurieren. Wunderheilungen wie die Heilung Aussätziger und Blinder vollbrachte er, um Zeichen für seinen wesentlich bedeutenderen Auftrag zu setzen (Lk 4,18-19).

Aus gutem Grund gesetzte Zeichen
Heute wissen wir, dass ein „Zeichen“ aus gutem Grund gesetzt wird: um nämlich zu informieren und unsere Aufmerksamkeit auf etwas Wichtiges zu lenken. Dieselbe Aufgabe erfüllen die von Jesus und seinen Jüngern gesetzten Wunderzeichen.

Der Verständigung dienende Zeichen werden aufgestellt, um zu informieren; schnell richten wir unseren Blick auf den Grund des Zeichens, anstatt das Zeichen selbst anzustarren. Wenn darauf „AUSGANG“ signalisiert wird, bewegen wir uns auf die verwiesene Tür zu. Besagt die Aufschrift hingegen „Willkommen in Berlin“, so fahren wir in dem Bewusstsein, in die Hauptstadt des Landes zu kommen, dorthin.

Ähnlich sollten wir die von Jesus und seinen Jüngern vollbrachten Zeichen interpretieren (Joh 20,30-31).

Wunderzeichen hatten zur rechten Zeit und am rechten Ort ihre Berechtigung. Aber selbst damals wurden die Gläubigen zu neuem Leben in Christus berufen und nicht zu Gesundheit und Reichtum im Hier und Heute. Dieses neue, ewige Leben ist eine Beziehung zu Gott durch Jesus (Joh 17,3). Es ist das Wunder, das Gott schon immer im Leben all jener umsetzen wollte, die um eines erfüllten, ewigen Lebens willen an seinen Sohn glauben und auf ihn vertrauen wollen.


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