Was ist ein Evangelikaler?

Von Dr. Joseph Tkach

Was ist ein „evangelikaler“ Christ? Wir (die GCI in den USA) sind Mitglied der National Association of Evangelicals (NAE), die Evangelische Allianz in den USA und bezeichnen uns als evangelikale Glaubensgemeinschaft. Was meinen wir, wenn wir uns so nennen?

„Evangelikal“ leitet sich von dem griechischen Wort für „Evangelium“ her. Dieses Wort lässt erwarten, dass ein evangelikaler Christ dem Evangelium hohe Priorität einräumt; es wird jedoch nicht immer in diesem Sinne gebraucht. In manchen Regionen versteht man unter evangelikal soviel wie protestantisch, und in anderen bedeutet es soviel wie pfingstlerisch. Einer definiert diesen Begriff enger, der andere breiter. Einige möchten ihn gern auf sich anwenden, andere wiederum verachten ihn.

Soziologen gebrauchen den Begriff evangelikal für Gläubige und Kirchen, die konservativer als der Durchschnitt sind. Und obgleich dieser Begriff nichts über seine theologische Genauigkeit aussagt, wächst dieses Segment des Christentums. Mitglieder dieser Richtung sind ihrem Glauben tiefer ergeben und stärker in ihren Kirchen engagiert. In diese Kategorie fallen die zur NAE gehörenden Kirchen sowie Gemeinden und Mitglieder aus der Hauptlinie der protestantischen Bekenntnisse wie auch der römisch-katholischen Tradition.

Oft wird zwischen evangelikal und „fundamentalistisch“ unterschieden. Unter diesem Begriff verstand man ursprünglich solche Christen, die sich zu fünf bestimmten Hauptglaubensgrundlagen bekannten und die schließlich eine Verbindung mit den Ultrakonservativen eingingen. Sie lehnten sowohl wissenschaftliche Forschungen ab wie auch moderne Bibelübersetzungen und alles Neue sowie jeden Christen, der kein Fundamentalist war. Einige sehr überzeugte Fundamentalisten benannten konservative Christen mit hässlichen Namen. Und in den 50er Jahren begannen gemäßigte Konservative, sich die Bezeichnung „Evangelikale“ beizulegen, um so eine sprachliche Distanz zu ihren Vettern des rechten Flügels zu schaffen.

Sechs Unterscheidungsmerkmale
Was ist nun ein Evangelikaler? Alister McGrath, ein evangelikaler Anglikaner nennt sechs Unterscheidungsmerkmale des evangelikalen Christentums:
1) Höchste Autorität der Bibel,
2) Jesus Christus, fleischgewordener Gott,
3) der Heilige Geist,
4) die persönliche Bekehrung,
5) Evangelisation und
6) die Wichtigkeit der christlichen Gemeinschaft
(Evangelicalism and the Future of Christianity, „Evangelikalismus und die Zukunft des Christentums“, InterVarsity Press, 1995, S. 55-56).

Diese sechs Glaubensgrundlagen stellen keine eherne, starre Grenze dar. Sie sind jedoch grundsätzlich geeignet, der Abgrenzung zwischen Evangelikalismus und der Hauptströmung des Protestantismus zu dienen. (Eine weitere Liste von Lehren und Glaubenspraktiken wäre nötig, um die Abgrenzung der beiden präziser zu beschreiben.)

Evangelikale haben bei aller, oft nur in der Lehre bestehenden Trennung vieles gemeinsam. Und obgleich sie alle die Autorität der Bibel bejahen, interpretieren sie sie doch unterschiedlich. Einige Richtungen taufen Säuglinge, andere betonen die Vorherbestimmung, manche reden in Zungen oder schwören auf eine bestimmte Führungsform, und wieder andere betonen Sozialarbeit. Eine solche Divergenz mag besser als erzwungene Übereinstimmung sein, sie kann jedoch das Christentum als von Trivialitäten besessen erscheinen lassen. Und tatsächlich lassen wir Christen uns manchmal durch solche Themen verwirren.

Sie werden sich erinnern, dass ich wiederholt auf die Notwendigkeit hingewiesen habe, Primäres statt Peripherisches zu betonen. Gewiss dürfen wir uns auch peripherische Dinge gestatten, solange wir sie nicht derart stark betonen, dass wir sie benutzen, um Barrieren zu errichten, etwa so, als könnten Gläubige, die nicht mit uns übereinstimmen, kaum bekehrt sein. Unter allen Menschen sollten wir selbst es doch am besten wissen, dass Christen in wichtigen Dingen irren können. Und wir sollten die Notwendigkeit verstehen, gegenüber anderen, die ebenfalls Christus nach bestem Wissen dienen, Toleranz zu üben. Deshalb bemühen wir uns auch, die Liste unserer zentralen Glaubensgrundsätze relativ einfach zu halten, statt sie um viele Dinge zu erweitern, die uns als „wichtig“ erscheinen.

Ein Buch von John Stott fand ich besonders erfrischend: Evangelical Truth: A Personal Plea for Unity, Integrity and Faithfulness (Intervarsity, 1999). Stott war 50 Jahre lang evangelikaler Leiter in England. Da er sich der theologischen Vielfalt bestens bewusst ist, setzt er sich beständig dafür ein, Geduld zu üben und Frieden zu praktizieren.

Drei wesentliche Lehren
Darum möchte ich meine Herausgeberspalte diesmal etwas anders nutzen, indem ich einige in seinem Buch erwähnte Schlüsselpunkte hervorhebe. Stott destilliert das Wesentliche des Evangelikalismus zu drei Lehren: Gottes Offenbarung, die Erlösung durch Christus und die durch den Heiligen Geist gewirkte Verwandlung.

Das Evangelium ist mit diesen drei Prioritäten eng verbunden: es wurde von Gott offenbart, konzentriert sich auf das Kreuz Christi und ist effektiv wirksam durch das Werk des Heiligen Geistes. Stott benutzt 1. Korinther 15,1-5, um sechs Punkte des Evangeliums herauszustellen:
1) Es handelt von Jesus Christus und
2) basiert auf der Bibel;
3) es wurzelt in der Geschichte und
4) verkündigt die theologische Bedeutung des Todes Jesu;
5) es ist die Botschaft der Apostel und zwar
6) eine sehr persönliche – sie wird von Menschen angenommen, die sich auf sie berufen, an ihr festhalten und durch sie gerettet werden.

Der Tod Jesu ist von zentraler Bedeutung. Jesu Zeremonie, die er uns zu seinem Gedächtnis gab, soll uns an seinen Tod erinnern. Er wollte, dass wir uns an ihn erinnern, was in der Tat das besondere Charakteristikum des christlichen Glaubens ausmacht. Jesus starb für uns, für unsere Sünden. Und viele verschiedene Theorien befassen sich mit der Frage, warum sein Tod uns rettet. Die Bibel aber wiederholt nur, dass wir durch seinen Tod gerettet sind – er starb für uns, für unsere Sünden. Stott formuliert es so: „Christus starb stellvertretend für uns, an unserer statt, damit wir nicht für unsere Sünden sterben müssen ... Er starb aber auch repräsentativ für uns, als wir mit dem Sterbenden mitstarben“ (S. 81).

Die Rechtfertigung ist das theologische Bindeglied zwischen Christi Kreuzigung und unserer Rettung. Aufgrund dessen, was Christus am Kreuz für uns vollbracht hat, sind wir gerechtfertigt – gelten als gerecht – sind von Gott angenommen – uns ist vollständig vergeben – unsere Sünde wird uns nicht mehr angerechnet. (Die Bibel benutzt viele Ausdrücke, um diesen Gedanken zu transportieren.)

Stott erkennt fünf wichtige Aspekte der Rechtfertigung:
1) Sie kommt durch Gnade und
2) basiert auf dem Tod Christi;
3) wir müssen „in Christus“ sein – mit ihm und seinem Leib (Gemeinde) vereint;
4) man bekommt sie durch Glauben – und Glauben ist kein „Werk“, das die Rettung verdient hat. „Glaube hat keine andere Funktion als zu empfangen, was die Gnade frei gibt“ (S. 78).
5) Rechtfertigung wird geschenkt, damit wir durch den Heiligen Geist in dem neuen Leben geleitet werden können – „geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken“ (Eph. 2,10).

Uns wurde neues Leben geschenkt
Glaube und Werke werden beide vom Heiligen Geist, dem dritten wichtigen Element evangelikalen Glaubens, ermöglicht. Das christliche Leben beginnt mit der geistlichen Wiedergeburt, einer Regenerierung. Der Heilige Geist kommt in uns hinein und gebiert uns erneut – wir werden geboren vom Geist, von oben. Uns wurde neues Leben geschenkt. Dieser Geist versichert uns, dass wir tatsächlich Gottes Kinder sind. Wir können wissen, wir können vertrauen, wir können sicher sein. Denn unsere Erlösung beruht nicht auf unserer fehlerhaften Ausführung, sondern auf dem von Christus schon vollbrachten Werk.

Und es gibt in unserem Leben noch einiges zu tun: das Werk des Heiligen Geistes, der uns in ein Leben des Gehorsams und der guten Werke leitet. Dieses Wirken geschieht in der Kirche, dem Leib der Gläubigen. Die Evangelikalen haben keine sophistische (ein auf menschliche Weisheit gegründetes Gedankengebäude) Kirchen-Theologie. Aber die Kirche ist im evangelikalen Glaubensleben wichtig – wichtig in unserem Gottesdienst, im gegenseitigen Dienen und in unserem Auftrag gegenüber unserer Umwelt.

Die Fundamentalisten tendieren dazu, sich von der Welt zurückzuziehen und in ihrer Kirche einen Ort der Sicherheit zu sehen, an dem sie sich vor den Übeln um sie herum verbergen können. In früheren Jahrzehnten verfielen Evangelikale oft einer Festungsmentalität. Das hat sich jedoch geändert. Evangelikale engagieren sich jetzt durchschnittlich stärker an sozialen Projekten als Fundamentalisten oder die Hauptströmung der Protestanten. Sie nehmen Jesu Gebot, den Nächsten zu lieben, ernst und tragen so mit ihren Werken, zu denen wir berufen sind, wesentlich zum Reich Gottes bei.

Bis zur Rückkehr Jesu werden die Evangelikalen wohl kaum zu einer organisatorischen Einheit gelangt sein. Wir werden in peripherischen Lehren immer zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Und es wird immer verschiedene Glaubensgemeinschaften geben, die diese unterschiedlichen Schlüsse fördern.

Keine geistigen Barrieren errichten
Mögen diese Lehren auch „wichtig“ sein, dürfen wir sie dennoch niemals so sehr betonen, dass sie für uns zum Zentrum und gegenüber anderen zu geistigen Barrieren werden, die uns wehren, in anderen Gläubigen Christen zu sehen. Sie sollten uns auch nicht vom Gottesdienst oder der Zusammenarbeit mit Menschen, die die wesentlichen Glaubensdinge mit uns teilen, abhalten, wie Ehrfurcht vor Gottes Offenbarungen, dem Glauben an die Erlösung durch Gnade, die auf Christi Kreuzigung basiert, und unserem Verständnis, dass der Heilige Geist in unserem Leben wirken muss.

Die Vielfalt menschlichen Strebens und Denkens im Christentum stellt einen wertvollen Schatz dar. Dennoch bleibt sie für alle, die ihre Komplexität in ihrer Tiefe ausloten möchten, im Kern schlicht, aber mächtig. Das Elementare des Kernchristentums besteht im Glauben, dass wir, wie die Bibel offenbart, durch den Tod Jesu Christi mit Gott ins Reine kommen können. Unsere Erlösung hängt weder von einem bestimmten Kleidungsstil ab, noch von den Tagen, an denen wir uns versammeln, noch davon, ob wir Kaffee trinken oder ob wir das Millennium buchstäblich oder bildlich verstehen, wie unser Verständnis zur Vorherbestimmung ist oder von einer Menge anderer Dinge, die Christen oft stark interessieren. Es ist nicht falsch, solche Themen zu studieren, aber unser Fokus muss klar bleiben.


Bemerkung des Herausgebers:
Falls Sie an der Geschichte und einer Definition des Fundamentalismus und Evangelikalismus interessiert sind, füge ich hier zwei Quellen an, in denen Sie nachlesen können:
Fachwörterbuch Theologie, hrsg. von Johannes Hanselmann und Uwe Swarat, im R. Brockhaus Verlag, Wuppertal, ISBN 3.417-20720-7.
Die Geschichte des Christentums, R. Brockhaus Verlag, Wuppertal, ISBN 3-417-24568-0


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