Die Gabe der Zungenrede
Von Santiago Lange

Die Gabe der Zungenrede (auch das ‚Sprechen in Zungen‘ genannt) ist ein Thema, das von vielen Christen kontrovers diskutiert wird und auch zu Spaltungen untereinander geführt hat. Aus einer Passage des Neuen Testaments erfahren wir, dass diese Gabe erstmals von Jesus Christus erwähnt wird. Im Markus-Evangelium lesen wir vom Missionsauftrag. Jesus nennt Wunderzeichen, die die Mission unterstützen würden (vorausgesetzt, dass dieser umstrittene Abschnitt zum inspirierten Text gehört): „Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur. Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden. Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben, sind diese: In meinem Namen werden sie böse Geister austreiben, in neuen Zungen reden, ...“ (Mk 16,15-17 LUT).

Die Gabe der Zungenrede war Teil des großen Pfingstereignisses, bei dem der Heilige Geist über die 120 Gläubigen ausgegossen wurde, die sich gemäß der Anweisung Jesu versammelt und darauf gewartet hatten.

„Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen [Zungen], wie der Geist ihnen gab auszusprechen“ (Apg 2,1-4 LUT).

Diese Schriftstelle ist nun ein Beleg dafür, wie die Gabe der Zungenrede ins Blickfeld des biblischen Christentums gelangte. Zum ersten Mal sprach Jesus über diese Gabe, kurze Zeit bevor er in den Himmel auffuhr. Nur wenige Tage später zeigte sich die Gabe der Zungenrede im Zusammenhang mit der Taufe des Heiligen Geistes durch das Leben und den Dienst der 120 Erstempfänger. Dies war jedoch keineswegs die Einführung der Zungenrede in das Wort Gottes, wohl jedoch ins Christentum und in das Neue Testament.

Wie wichtig war die Gabe der Zungenrede zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments? Untersuchen wir kurz, wie diese Frage in der Zeit der ersten 35 Jahre des Christentums oder ab der Kreuzigung Christi bis zum Märtyrertod des Apostel Paulus behandelt wurde.

Es gibt zwei grundlegende Möglichkeiten, die „Bedeutung der Zungenrede“ während dieser Zeit zu untersuchen. Man kann das zum Beispiel anhand der Häufigkeit feststellen; also wie oft diese Gabe in Erscheinung getreten ist. Das Ergebnis der Nachforschungen ist sehr aufschlussreich.

Am Pfingsttag, so berichtet Apostelgeschichte 2,4, sprachen Männer und Frauen in Zungen, was bei der Verkündigung des Evangeliums in der Öffentlichkeit dazu beitrug, dass 3000 Menschen bekehrt wurden. Es gibt keinen Beweis dafür, dass die 3000 Neubekehrten, die an diesem Tag zu Christus kamen, in Zungen sprachen wie die ersten 120 Christen.

Über das nächste Auftreten der Zungenrede wird in der Apostelgeschichte, im 10. Kapitel, berichtet, etwa 10 Jahre nach dem ursprünglichen Auftreten am Pfingsttag:

„Während Petrus noch über diese Dinge sprach, kam der Heilige Geist auf alle herab, die seine Botschaft hörten. Die Gläubigen jüdischer Herkunft, die Petrus nach Cäsarea begleitet hatten, waren außer sich vor Verwunderung, dass die Gabe Gottes, der Heilige Geist, auch über Nichtjuden ausgegossen wurde, denn sie hörten, dass sie in Zungen redeten und Gott hoch priesen“ (Apg 10,44-46 NGÜ).

Dieses Ereignis fand im Haus des römischen Hauptmannes Cornelius statt und ist die zweite Begebenheit, bei der über das Auftreten der Zungenrede, diesmal an einem zweiten Ort, berichtet wird.

Der dritte biblische Hinweis zur Zungenrede befindet sich in Kapitel 19 der Apostelgeschichte:

„Da sagte Paulus: »Johannes rief das israelitische Volk zur Umkehr auf und taufte die, die seinem Aufruf folgten. Aber er verband damit die Aufforderung, an den zu glauben, der nach ihm kommen würde, nämlich an Jesus.« Als sie das hörten, ließen sie sich auf den Namen von Jesus, dem Herrn, taufen. Und als Paulus ihnen dann die Hände auflegte, kam der Heilige Geist auf sie herab, und sie redeten in geistgewirkten Sprachen [Zungen] und machten prophetische Aussagen. Es waren etwa zwölf Männer, die zu dieser Gruppe gehörten“ (Apg 19,4-7 NGÜ).

Dies ist die dritte Begebenheit, der dritte Bericht über das Auftreten der Zungenrede, nun an einem dritten Ort.

Die vierte Bezugnahme auf die Gabe der Zungenrede findet sich im 1. Brief an die Korinther, in den Kapiteln 12 bis 14. Dieser längere Abschnitt bezieht sich auf das Auftreten der Zungenrede in Korinth, dem vierten Ort. Es gibt jedoch keine nähere Angabe, wie häufig in Zungen gesprochen wurde.

Es ist anzunehmen, dass in dem 35-jährigen Zeitraum der frühen Kirchengeschichte, der durch die Apostelgeschichte und den ersten Brief des Paulus an die Korinther abgedeckt wird, das „Reden in Zungen“ wahrscheinlich häufig vorgekommen ist. Der Mangel an Beweisen ist nicht notwendigerweise der Beweis für mangelndes Vorkommen. Doch die Tatsache, dass der Heilige Geist nur vier Berichte über Zungenrede in einer Spanne von 35 Jahren und nur in zwei Büchern des Neuen Testaments aufzeichnen ließ, sollte zumindest die Frage aufwerfen, ob vielleicht die Bedeutung der Zungenrede in jener Zeit von denen unter uns, die im Hier und Jetzt leben, etwas überhöht wurde.

Wir können auch versuchen, die Bedeutung der Zungenrede in diesem Zeitraum zu bestimmen, indem wir die Priorität, die dieser Gabe zugeordnet wurde, untersuchen. Betrachten wir dazu einige Schlüsselstellen des Apostel Paulus im 1. Brief an die Korinther:

„Über die Gaben des Geistes aber will ich euch, liebe Brüder, nicht in Unwissenheit lassen“ (1 Kor 12,1 LUT).

Diese Aussage des Apostel Paulus zeigt auf, dass ein Christ eine geistliche Gabe besitzen und noch wenig, wenn überhaupt, etwas von der biblischen Wahrheit wissen kann, die mit dieser Gabe zusammenhängt.

Einige Verse weiter, im selben Kapitel, schreibt Paulus:

„Gott hat in der Gemeinde eingesetzt erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, dann Wundertäter, dann Gaben, gesund zu machen, zu helfen, zu leiten und mancherlei Zungenrede“ (1 Kor 12,28 LUT).

In der Gabenliste des Paulus steht die Zungenrede an letzter Stelle; sie hat die niedrigste Priorität.

In Kapitel 14 ermahnt Paulus die Christen: „Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede!“ (1 Kor 14,1 LUT).

Paulus fordert die Korinther auf, nicht nach der Gabe der Zungenrede zu streben, sondern sich vor allem um die geistliche Gabe der prophetischen Rede (was der inspirierten Predigt entspricht) zu bemühen.

In Vers 19 verdeutlicht Paulus diese Forderung: „Aber wenn die Gemeinde versammelt ist, will ich lieber fünf verständliche Worte sagen, damit auch andere einen Gewinn davon haben und im Glauben unterrichtet werden, als zehntausend Wörter in einer Sprache [Zunge], die keiner versteht“ (1 Kor 14,19 NGÜ).

Hier sehen wir wieder, welchen niedrigen Stellenwert die „Zungenrede“ im Vergleich zu prophetischen Rede, dem inspirierten Predigen, hat.

Betrachtet man dieses Thema aus zwei verschiedenen Blickwinkeln – der Anzahl des Auftretens der Zungenrede und hinsichtlich des Wertes, den Paulus dieser Gabe beimisst – kann man die Ansicht vertreten, dass die Gabe der Zungenrede in den ersten 35 Jahren der christlichen Ära nicht zu den großen geistlichen Gaben gehörte.

Nun, wie steht es aber um die Bedeutung der Gabe der Zungenrede in der Kirchengeschichte? Zu dieser Frage möge es gestattet sein, mit nur einem einzigen Kommentar zu antworten. Es ist eine Tatsache, dass im Laufe der Kirchengeschichte viele der herausragenden christlichen Persönlichkeiten die geistliche Gabe der Zungenrede weder erwähnt, noch befürwortet und auch nicht praktiziert haben: Die lange Liste umfasst Johannes Chrysostomos, Augustinus von Hippo Martin Luther, Johannes Calvin, Ulrich Zwingli, John und Charles Wesley, George Whitefield, um nur einige zu nennen. Das mag deutlich machen, dass die Gabe der Zungenrede keine Schlüsselrolle in den Erfahrungen und im Denken dieser Christen gespielt hat.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es eine Reihe von Fakten gibt, die wir aus der Heiligen Schrift ableiten können:

1. Das Sprechen in Zungen ist kein definitiver Beweis für die Taufe mit dem Heiligen Geist. Es haben nicht alle Korinther in Zungen gesprochen (1 Kor 14,5); es wurden jedoch alle getauft (1 Kor 14,13).

2. Die Frucht des Heiligen Geistes (Gal 5,22-23) beinhaltet nicht das Sprechen in Zungen. Deshalb erfordert Christusähnlichkeit auch nicht das Sprechen in Zungen.

3. Die meisten Verfasser des Neuen Testaments haben keine Aufzeichnungen über die Zungenrede hinterlassen. Sie wird nur in drei Büchern (in der Apostelgeschichte, im 1. Brief an die Korinther und im Markus-Evangelium) erwähnt. (Hinweis zu Markus 16,17: Diese Textstelle ist nicht in den beiden besten griechischen Manuskripten enthalten). Bezeichnenderweise enthalten viele der anderen neutestamentlichen Bücher umfangreiche Schriftstellen über den Heiligen Geist, erwähnen das Sprechen in Zungen jedoch überhaupt nicht.

4. Es gibt wichtigere Gaben als die der Zungenrede; und diese sind es, die angestrebt werden sollen (1 Kor 12,28 und 31).

Quelle: Ron Rhodes, The Complete Book of Bible Answers, (Harvest House Publishers, Eugene, OR; 1997), S. 91.

Wo immer wir in dieser Frage unseren persönlichen theologischen Standpunkt einnehmen und unsere eigenen Prägungen erkennen, sollten wir die richtige christliche Haltung bewahren und schützen. Der Apostel Paulus erklärt uns auf eindrucksvolle Weise in seinem 1. Brief an die Korinther, welches Verständnis vonnöten ist.

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1 Kor 13,1-13 LUT).

LUT: Die Bibelstellen stammen aus der Luther-Übersetzung von 1984.
NGÜ: Die Bibelstellen stammen aus der Neuen Genfer Übersetzung von 2016.


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