Die Kraft der Vergebung

Von Barbara Dahlgren

Das Thema Vergebung ist sehr wichtig für uns Menschen. Studien zeigen, dass diejenigen, die die Kunst der Vergebung beherrschen, länger und gesünder leben. Früher betrachtete man das Thema Vergebung hauptsächlich aus theologischer Sicht, doch heutzutage sind auch Psychologen, Ärzte und Wissenschaftler sehr daran interessiert. Laut Aussage der Mayo-Klinik ergeben sich viele gesundheitliche Vorteile: gesündere Beziehungen, weniger Angst, weniger Depressionen, ein stärkeres Immunsystem und weniger negative Gefühle – um nur einige zu nennen.

Alle sind sich durchaus einig, dass Vergebung eine gute Sache ist. Dass dies einfacher gesagt ist als getan, weiß auch jeder. Es mag jedoch leichter umzusetzen sein, wenn man unter Vergebung nicht notwendigerweise Vergessen, Versöhnen oder Wiederherstellen versteht. Das kann nachdem man vergeben hat geschehen; es ist aber definitiv nicht vordringlich. Gott ermahnt uns, zu vergeben (Kol 3,13; Eph 4,32; Lk 17,4), aber er sagt uns damit nicht, dass wir den Unglaubwürdigen vertrauen, unchristliches Verhalten dulden, jeden auf uns herumtrampeln lassen oder Verantwortliche nicht zur Rechenschaft ziehen sollen. Falsch verstandene Auffassungen können unsere Einstellung zur Vergebung blockieren.

Andererseits kann Vergebung nicht verdient werden. Einige von uns spielen das „Nur-wenn“-Spiel. Man meint, man müsse jemandem vergeben, doch „nur, wenn“ der Betreffende sich entschuldigt oder sein falsches Verhalten bekennt. Aber so funktioniert Vergebung nicht. Tatsächlich werden viele Menschen, denen wir vergeben sollten, niemals zugeben, dass sie uns Unrecht zugefügt haben oder machen sich einfach keine Gedanken darüber. Wir sollten ihnen trotzdem vergeben. Jeder von uns wurde schon einmal von jemandem verraten, verletzt, emotional verletzt oder falsch behandelt. Wir könnten denken, dass es unser gutes Recht sei, zurückzuschlagen, zu vergelten, uns zu rächen oder eine Haltung nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ einzunehmen. Wenn wir vergeben, geben wir dieses „Recht“ auf. Wir überlassen es Gott, Vergeltung zu üben, wenn er es für nötig hält (Röm 12,19-21). Wir können ihm vertrauen, dass er sich auf seine Weise und zu seiner Zeit um die Angelegenheit kümmern wird.

Oberflächlich betrachtet scheint Vergebung ein selbstloser Akt zu sein, aber so ist das in Wirklichkeit nicht, denn Vergebung ist ein Geschenk, das wir sowohl uns selbst als auch anderen machen. Indem wir das Recht auf Vergeltung aufgeben, tauschen wir ätzende, selbstzerstörerische Gefühle wie Wut, Groll und Bitterkeit gegen Frieden ein. Statt ein Opfer zu bleiben, können wir ein Überwinder werden und unser Leben weiterführen. Wir können unsere Vergangenheit davon abhalten, unsere Gegenwart oder Zukunft zu bestimmen. Lewis Smedes (Autor des Buches Forgive and Forget und anderer christlicher Bücher) schrieb: „Vergeben ist wie einen Gefangenen freilassen, um hernach festzustellen, dass man selbst der Gefangene war.“

Vergebung ist der erste Schritt auf dem Weg zur Heilung. Es geschieht nicht über Nacht. Es ist ein schwieriger und manchmal langer Prozess, aber der Mühe wert. Die Bereitschaft zur Vergebung kommt nicht nur unserem physischen Leben zugute, sondern dient auch unserem geistlichen und emotionalen Wohlbefinden. Vergebung ist ein Akt zum beiderseitigen Nutzen: Was wir Gutes dem Anderen tun, ist in Wirklichkeit auch gut für uns selbst.


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